AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Fackelschein Figuren und Gesichter zu unheimlichem Leben erweckte.
Ungeduldig berührte Jermyn ihren Arm.
»He, träum nicht«, flüsterte er, »kommst du da hoch oder soll ich die Leiter anstellen?«
Aus ihrer Versunkenheit geweckt, ging sie zum Treppenpfeiler und prüfte das Mauerwerk.
»Wofür hältst du mich?«
Mit einem überlegenen Blick machte sie sich an den Aufstieg. Jermyn blieb unter ihr stehen und hielt die Fackel so hoch es ging. Mörtel löste sich unter ihren Füßen und rieselte auf ihn herab. Er ließ sie nicht aus den Augen, aber er hätte sich keine Sorgen machen brauchen.
Das enge Gewand behinderte sie nicht. Die Jacke saß wie eine zweite Haut, den geschlitzten Rock hatte sie zurückgeschlagen. Die schlanken Beine in den schwarzen Beinlingen bewegten sich sicher und anmutig.
Jermyn wandte sich hastig ab. Er durfte sich nicht ablenken lassen, sein Vorsprung war nur gering. Dann fiel ihm der Augenachat ein.
Wag hatte sich einen Krug Würzwein zurechtgemacht und sich auf seine Bettstatt zurückgezogen, um in Ruhe zu überlegen.
Der Patron war unberechenbar, soviel stand fest. Dieses Auf und Ab, mal ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung, mal zu Tode betrübt – wie sollte man dabei wissen, woran man war? Heute Abend hatte Trauerstimmung geherrscht.
Während er seinen Wein schlürfte, zog er die Schnur aus dem Hemd, betrachtete missmutig den Ring.
Warum hatte er von dem verflixten Brautschatz angefangen? Sein Herr würde friedlich Taschen leeren und Einbrüche machen, nicht mächtigen Herren auf die Zehen treten. Ganz gleich wie die Sache ausging – der arme Wag würde das Nachsehen haben. Und es sah gewiss nicht gut aus. Jermyn hätte kaum solch sonderbares Zeug gequatscht, wenn er nicht am Gelingen der Sache zweifeln würde.
Seufzend ließ der kleine Mann den Ring zurückgleiten. Er schauderte, als das kalte Metall seine Brust berührte.
Wenn der Junge scheiterte, würden seine Feinde dafür sorgen, dass er verschwand. Schaffte er es dagegen, verließ er die Stadt. So oder so wäre Wag ohne Patron und Beschützer.
Er kroch tiefer in seinen Lumpenhaufen. Unter Jermyns Schutz fühlte er sich sicher, er wollte nicht mehr allein sein.
In den dunklen Vierteln würde es zugehen wie in einem aufgescheuchten Hornissennest. Fortunagra würde unbarmherzig Jagd auf den Räuber machen, einem abtrünnigen Gefolgsmann konnte es dabei schlecht ergehen.
Schaudernd dachte Wag an die Keller, denen er so knapp entkommen war. Diesmal würde kein Wunder geschehen ...
Er trank einen Schluck, um sich zu beruhigen, und fasste einen Entschluss. Wie beim ersten Mal musste er sich an Jermyns Fersen heften und ihm heimlich auf sein Schiff folgen. Wenn sie erst auf hoher See waren, warf der Junge ihn schon nicht ins Meer.
Erleichtert prostete er sich zu, als es in der Küche polterte und die Tür krachend aufflog.
»Ooh ... Oi, Pa...«
»Her mit dem Ring! Wo ist er? Na los, mach schon, mach schon. Was hat du getrieben? Du bist ja ganz eingesaut ... ääh ... und die Schnur klebt ... widerlich, du Ferkel!«
»...tron«, entgeistert starrte Wag auf die Tür, die sich wieder hinter Jermyn geschlossen hatte. Den leeren Becher hielt er noch in Hand, seine Zähne schmerzten, wo der Rand dagegen geschlagen hatte. Unberechenbar – von Schwermut war nichts mehr zu spüren gewesen. Der Patron hatte ausgesehen, als habe er den Brautschatz schon in der Tasche.
Jermyn fand Ninian weder im Übungsraum noch in dem mittleren Gemach. Plötzlich überfiel ihn die Angst, sie könne verschwunden sein. Mit angehaltenem Atem stürzte er in den letzten Raum.
Sie stand vor der Empore, in den Anblick der Bettstatt aus Decken und Polstern vertieft. Halb kehrte sie ihm den Rücken zu, doch ihr Gesicht hob sich hell von der dunklen Haarmähne ab. Das Weißzeug am Ausschnitt und den Ärmeln schimmerte im Mondschein und als sie sich bewegte, huschten silbrige Irrlichter über ihren Leib.
Jermyn verharrte auf der Schwelle. Er hatte Recht gehabt – sie gehörte in diesen Raum! Der Triumph, sie hier zu haben und sein Verlangen überwältigte ihn beinahe. Er ballte die Fäuste und der Ring bohrte sich schmerzhaft in seine Handfläche. Das brachte ihn zu sich.
Es gab noch etwas zu tun, heute Nacht. Erst würde er sich den Schatz holen, dann, wenn alles gelungen war, seine Belohnung. So lange musste er sich beherrschen.
»In dem Aufzug kannst du nicht klettern. Hast du nichts anderes?«
Es kam barscher heraus, als er es
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