AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
meinte. Wie ertappt fuhr sie herum und das kalte Licht enthüllte mitleidlos die brennende Röte, die Gesicht und Hals überflutete.
»Bei den Göttern, Jermyn, schleich dich nicht so an. Ich hatte nicht vor, so zu klettern. Gib her und lass mich allein, ich finde schon etwas passenderes.« Sie warf den Beutel auf das Bett und begann hastig, darin zu kramen. Jermyn grinste, aber als er ging, klopfte sein Herz in harten, unregelmäßigen Stößen.
Kaum waren seine Schritte verklungen, ließ Ninian sich auf das unordentliche Lager sinken. Wie lange hatte er sie beobachtet? Sie hatte nie gefürchtet, dass er ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung in ihre Gedanken blicken würde, aber er war auch so scharfsichtig genug. Wie viel mochte er von dem erraten haben, was ihr durch den Kopf gegangen war?
Das Bett war groß, es bot mehr als genug Platz für zwei Menschen – erwartete er, dass sie es mit ihm teilte? Sie sah sich in dem kalten, silbrigen Licht in seinen Armen liegen, spürte seine Hände, seine Wärme, die sie umfing ... gerade in diesem Moment war er hereingekommen, sie hatte sich nackt vor seinen Augen gefühlt.
Allerdings war er unschmeichelhaft gelassen geblieben, außer seinem Einbruch schien ihn nichts zu interessieren. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte und schnürte ärgerlich die enge Jacke auf. Soviel zur Wirkung aufreizender Kleidung! Und zum Klettern eignete sich Laluns Geschenk schon gar nicht.
Aus dem Beutel zog sie die Hosen und den Kittel aus dem Haus der Weisen. Mit Mühe hatte sie Elys Gattin überredet, die Sachen nicht zu vernichten, sondern säubern und flicken zu lassen. Erleichtert schlüpfte sie hinein.
»Du gehst nur auf eine Klettertour«, beruhigte sie sich, während sie ihr Haar zu einem festen Zopf flocht. Sie ließ sich Zeit, aber schließlich war sie fertig und musste die Sicherheit des stillen Gemachs verlassen.
Die Malereien an den Wänden des nächsten Raumes wirkten im Dämmerlicht blass und verschwommen. Nur die anmutige Gestalt eines Mädchens fiel Ninian ins Auge. Der Blick, den es ihr im Fortgehen über die Schulter zuwarf, war so direkt, dass sie einen Moment zögerte. Wollte die gemalte Schöne sie warnen oder ermutigen?
Mit einem Ruck schüttelte sie die törichte Empfindung ab und schob den Vorhang zurück. Warmer Lampenschein empfing sie, Jermyn kniete am Boden und verstaute eine Seilrolle in einem Beutel aus gewachster Leinwand. Als er sie hörte, sah er auf und lächelte breit.
»Oi, Ninian, jetzt erkenn ich dich endlich.«
»Ja, ich dich auch«, sie erwiderte das Lächeln. Mit einem Mal war die Vertrautheit zurückgekehrt. Auch er trug den Schüleranzug, eine Kapuze verbarg den Zopf und die befremdlichen Stacheln.
»Du siehst gut aus«, sagte er beifällig und sie nahm es auf wie er es meinte – rein geschäftsmäßig.
»Was ist mit meinen Stiefeln?«
»Lass sehen.«
Er hockte sich hin und betrachtete ihr Schuhwerk.
»Für den alten Turm wären sie biegsam genug, aber für diese Wand brauchst du mehr Gefühl in den Füßen. Wart mal ...«
Er kramte ein Paar Füßlinge aus dünnem Leder aus seinem Beutel.
»Hier, probier die. Bei mir sitzen sie fast zu stramm.«
Ninian zog die Stiefel aus und schlüpfte in die Füßlinge. Sie passten wie angegossen. Jermyn nahm ihren Fuß und betastete ihn.
»Etwas fester wäre besser, es ist gut, wenn der Fuß etwas gekrümmt ist, aber so muss es auch gehen.«
Er strich mit dem Finger über ihren Rist. Sie schauderte und hastig gab er sie frei. Ihre Blicke trafen sich und Ninian errötete.
»Was nimmst du?«, fragte sie, fest entschlossen, die neugewonnene Unbefangenheit nicht einzubüßen.
»Das hier«, antwortete er und hielt zwei lange dunkle Lederriemen hoch. »Reißfest und doch geschmeidig«, er lachte gezwungen, »verdammt, ich hör mich an wie ein Marktschreier ... wann hast du zuletzt gegessen?«
»Warte, ich glaube, am Mittag, ja, ich habe mittags im Stadthaus gegessen. Aber ich bin nicht hungrig.«
Es stimmte, sie hatte das Gefühl, keinen Bissen herunterbringen zu können. Doch Jermyn war anderer Meinung.
»Das denkst du nur. Nachher stehst du auf einem Dachfirst und dir wird flau im Magen, oder du hast plötzlich keine Kraft mehr, dich hochzuziehen. Du musst was essen, damit du nicht im entscheidenden Moment schlapp machst, und ich übrigens auch. Mal sehen, was Wag noch in der Küche hat.«
Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Wag sich gesäubert hatte.
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