AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Schwung gibst, erreichst du die erste kleine Vertiefung dort oben rechts, wo du die Finger einklemmen kannst. Links liegt die nächste Kerbe etwa eine halbe Armlänge über deinem Kopf. Mit den Füßen gehst du auf Reibung. Der erste Haken sitzt fest, du kannst darauf treten, wenn du Halt brauchst. Und von da an schaust du wie ich hochgehe und benutzt die gleichen Griffe und Tritte. Wenn du nicht weiter kannst oder Schwierigkeiten hast, zieh einmal am Seil, zweimal bedeutet, dass du verstanden hast und zurechtkommst.«
Er lächelte ihr zu, als er ihre bedenkliche Miene sah.
»Ich leg dich ans Seil. Wenn du wirklich nicht mehr kannst, lass ich dich runter, aber ich glaube nicht, dass es nötig sein wird.«
Sie nickte nur, ihr Mund war wie ausgetrocknet. Jermyn hatte ein zweites Seil herausgeholt und befestigte es unter ihren Armen und über den Schultern. Sein Atem streifte ihre Wange, aber sie hielt ganz still und zwang sich, nur an den Aufstieg zu denken. Er musterte sie prüfend und eine steile Falte erschien zwischen den dunklen Brauen.
»Es gibt eine üble Stelle, an der du keinen Halt finden wirst. Du wartest davor, bis ich oben bin und dich hochziehe. Dort bin ich am Anfang auch gescheitert.«
»Und dann?« Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Zähne vor Aufregung aufeinander schlugen.
Er lachte leise. »Dann sind meine Arme offensichtlich noch ein Stück gewachsen. Los jetzt!«
Die Baumeister der Alten Zeit hatten ihre ganze Kunst angewandt, um die Mauer unbezwingbar zu machen und schon nach den ersten Zügen hatte Ninian alles vergessen, was sie die ganzen Tage bewegt hatte. Sie presste sich an das raue Gestein und suchte krampfhaft Halt für Hände und Füße. Panik stieg in ihr hoch. In den Bergen hatte sie sich nicht an lotrechte Wände gewagt und der Turm im Haus der Weisen blieb weit hinter diesem Ungetüm von Mauer zurück. Die Griffe reichten nicht ... Eine Armlänge höher hörte Jermyn sie keuchen und schaute zurück. Mit weitaufgerissenen Augen sah sie zu ihm hoch.
»Oi, Ninian, lass locker«, rief er gedämpft, »wir haben das zum Spaß gemacht, erinnerst du dich? Du kannst es, du bist gut. Hier ist schon der nächste Haken.«
Beruhigt durch die zuversichtliche Stimme, zog sie sich hoch und als sie den Haken sicher unter ihrem Fuß spürte, lehnte sie sich an die Mauer und atmete tief. Während sie dort lag, begann sie in den Stein hineinzuhorchen.
Einst war er lebendiger Fels gewesen, tief drinnen spürte sie seinen unendlich langsamen Atem. Ihre Angst verschwand, sie berührte das schlafende Bewusstsein und fühlte sich getröstet. Kein Kind der Erdenmutter würde ihr Schaden zufügen. Liebevoll tastete sie über den körnigen Leib und plötzlich entdeckte sie winzige Unebenheiten, Höhlungen und Wölbungen, die ihr Halt boten. Sie musste nur dem Stein vertrauen. Zweimal ruckte das Seil und als Jermyn hinunter sah, hob sie den Daumen und lächelte ihm zu.
Sie kamen zügig voran, bis sie die Stelle erreichten, wo die Felsblöcke glatt wie Marmor waren und Ninian, selbst wenn sie sich bis zum Äußersten streckte, den nächsten Griff nicht erreichen konnte.
Sie wartete, bis Jermyn sich weit über ihr rittlings auf die Mauerkante schwang. Das Seil straffte sich und sie stieß sich mit aller Kraft ab. Einen schwindelerregenden Moment hing sie frei am Seil, dann stemmte sie sich gegen den Stein und überwand die letzten Längen. Jermyn half ihr hoch und als sie schnaufend neben ihm saß, grinste er breit.
»Siehst du, ich hab's dir doch gesagt. Das Seil bleibt hier, wir brauchen es nachher noch einmal.«
Er wand es sorgfältig über dem Ellenbogen zusammen und legte es auf die Mauerkrone.
»Schau, da drüben müssen wir hin.«
Unter ihnen lag eine weitläufige Palastanlage, nur wenig kleiner als der Hof in Tillholde. Das Mondlicht glänzte auf glasierten Ziegeln und schimmernden Fensterreihen. Die Fronten der drei Hauptflügel sahen auf die Straßen hinaus, niedrigere Stallungen und Wirtschaftsgebäude schlossen den Innenhof auf der vierten Seite.
Vier bis fünf Manneslängen unter ihnen grenzten die Dächer an die Stadtmauer. Sie war höher als alle anderen Gebäude, nur der Turm überragte sie um einen zinnenbewehrten Gang und den spitzen Dachhelm. Er erhob sich auf der gegenüber liegenden Seite über dem Hauptflügel und dem östlichen Seitenflügel.
»Wir laufen quer über die Dächer bis zum Turm. Fortunagras Schlafgemach muss an der Südseite im Hauptflügel liegen. Kannst
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