AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
um.« Er schlich an dem dicken Mauerwerk des Turmes entlang und verschwand um die Ecke.
Ninian lehnte sich an die unebenen Steine und ließ den Kopf auf die Knie sinken. Bis jetzt war alles gut gegangen, aber sie fühlte sich wie in einem Albtraum. Sie verletzte den geheiligten Wohnraum eines Mannes, beraubte ihn und brach Gesetze, die ihr Vater seit Jahren schützte und verteidigte. Es änderte nichts, dass Fortunagra vielleicht ein Schurke war und den Schatz unrechtmäßig an sich gebracht hatte. Sie gestand sich ein, dass sie auch hier säße, wenn der Brautschatz seit Generationen im Besitz des Ehrenwerten wäre.
Jermyn schien es nicht in den Sinn zu kommen, dass er etwas Unrechtes tat. Im Gegenteil, er schmeichelte sich geradezu, besonders tugendhaft zu handeln. Der Hohn in seiner Stimme war nicht zu überhören gewesen, als er unterwegs vom Gemeinwohl geschwatzt hatte.
Ninian verzog das Gesicht, als der Zweifel zurückkehrte. War er es wert, dass sie sich an ein solches Leben gewöhnte?
Immerhin – was er tat, machte er meisterhaft. An der senkrechten Wand hatte er sich mit der gleichen Sicherheit bewegt wie am Boden und an seinem nächsten Schritt schien er niemals zu zweifeln ...
»Jedes verdammte Fenster ist vergittert!«
Sie zuckte zusammen, als er plötzlich neben ihr auftauchte.
»Wie kann der Bastard nur so misstrauisch sein? Wer würde denn da oben reinkommen?«
»Na, du doch zum Beispiel«, sie kicherte, »der Turm ist sicher wegen deinesgleichen gebaut worden.«
»Lach nur«, knurrte er, »aber was machen wir jetzt?«
»Was ist mit den Fenstern des Schlafgemachs?«
»Vergittert, Fensterläden und Glasscheiben, da kommt nicht mal der Wind durch!«
»Kann man sich zwischen den Gitterstäben durchzwängen?«
Jermyn sah sie zweifelnd an.
»So dünn sind wir beide nicht, komm, schau es dir an.«
Er führte sie auf die andere Seite des Turmes zu einer kleinen Fensterluke. Zwei waagerechte Eisenstäbe waren so in der Wand verankert, dass sie nicht einmal einem Kind Einlass geboten hätte.
Jermyn hieb mit der Faust gegen die Mauer und rüttelte ungeduldig an dem widerspenstigen Eisen. Es saß nicht fest in dem Mauerwerk.
»Warte, lass mich.«
Ninian schob ihn beiseite. Erstaunt machte er Platz und sie griff nach dem Stab, legte die andere Hand liebevoll auf den Stein und schloss die Augen.
Der Stein war alt, alt und müde, es bereitete keine Mühe seine Substanz zu lockern, das störende Metall in seinen Eingeweiden hatte ihn mürbe gemacht. Schon lange quälte es ihn, aber Stein war dem grauen Meister untertan und musste ihm gehorchen. Doch nun gebot die Mutter ...
»Löse dich, lockere deinen Leib, ich befreie dich von deinem Dienst, Kind.«
Dankbar zog sich das Gestein zurück, spie das verhasste Eisen aus und versank in traumlosen Schlaf, selig in der Erinnerung an die Berührung der Erdenmutter, deren Schoß es geboren hatte.
Ninian öffnete die Augen und hielt dem verdutzten Jermyn die Stange hin.
»Hier, nimm schon, sie ist schwer.«
Er nahm ihr das Eisenstück ab, machte jedoch keine Anstalten es fortzulegen.
»Ich hatte vergessen, wie gut du dich auf Steine verstehst«, zärtlich berührte er mit der freien Hand ihre Wange, »ich habe gewusst, dass ich dich brauche, Ninian.«
Sie wich ein wenig zurück.
»Ja, zum Einbrechen.«
Es klang bitter und er fuhr auf.
»Nicht nur dafür!«
Sie errötete unter seinem Blick, dann grinste er plötzlich.
»Obwohl ... ja, im Moment offenbar vor allem zum Einbrechen. Komm, jetzt wird es ernst.«
Sie wanden sich unter der oberen Stange hindurch und landeten auf ausgetretenen Stufen, die in tiefe Dunkelheit verschwanden.
»Wir brauchen Licht«, murmelte Jermyn. Unter dem helleren Viereck des Fensterloches kramte er eine kleine Laterne und eine Schachtel hervor.
»Wozu? Ich finde meinen Weg auch im Dunkeln.«
»Aber ich nicht, ich habe keine Lust, mir die Zehen zu stoßen. Außerdem musst du mir gleich leuchten.«
Die Laterne war nach drei Seiten hin abgedunkelt, aus der vierten Seite zog er eine durchsichtige Scheibe, die er vorsichtig auf die Stufe neben sich legte. Er öffnete die Schachtel, zupfte aus der grauen Wolle ein Holzstäbchen und riss das mit einer bläulichen Masse überzogene Ende an der Wand an. Weißes Licht flammte auf, so hell, dass Ninian geblendet die Augen schloss. Als sie wieder hinsah, brannte eine Kerze in der Laterne.
»Was war das?«
Er legte das abgeflämmte Hölzchen in die Schachtel zurück und
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