AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Teppich.«
Er schleppte den großen Bronzeleuchter heran, der neben dem Schreibtisch stand und entzündete die fünf dicken Kerzen.
Als sie ruhig brannten, suchten sie weiter. Plötzlich sagte Ninian:
»Hier, ich hab es gefunden.«
Sie deutete auf ein geschupptes Geschöpf, dessen Kopf und vorderer Leib plastisch aus der Wand hervorragten.
»Aha, und warum gerade dieses Biest?«, fragte Jermyn misstrauisch.
»Siehst du die drei Hörner auf der Stirn und die langen Fäden am Kinn? Und hier, seine Füße sehen aus wie Paddel, hinten fehlen sie ganz. Es hat einen Schlangenleib und es ist geschuppt. Auf den Malereien im oberen Gang habe ich genau das gleiche Tier gesehen. Es ringelte sich um eine Tafel am Eingang des Hafens. Und drum herum waren auch diese merkwürdigen Kringel, vielleicht Wellen oder so was. Schau, die sind hier auch.«
Je länger sie sprach, desto sicherer war sie sich. Deutlich erinnerte sie sich an die grünlich schillernden Schuppen, die roten Hörner und den giftigen Blick der goldenen Schlangenaugen auf der Malerei. Als sie nach dem geschuppten Leib griff, trat Jermyn hinter sie und legte seine Hand auf die ihre.
»Warte, das machen wir gemeinsam, wenn du dich irrst, trifft es wenigstens uns beide.«
Ninian schüttelte den Kopf.
»Ich irre mich nicht.«
Zusammen drückten sie das geschnitzte Untier herunter. Es gab nach und die Umrisse einer Tür lösten sich aus dem Schnitzwerk, niedrig und schmal, aber als sie lautlos aufschwang, sahen sie, dass sie so dick war wie Jermyns Unterarm. Er stemmte die Schultern dagegen, um sie offen zu halten, doch sie schob ihn vor sich her und nur ein schneller Sprung rettete ihn davor, eingequetscht zu werden. Mit leisem Klicken fiel sie ins Schloss, das Rankenwerk griff nahtlos ineinander und verbarg sein Geheimnis.
»Du hattest Recht. Wie gut, dass ich dich dabei habe!« Jermyn drückte ihre Hand und sie kicherte.
»Obwohl ich immerzu träume?«
Er grinste verlegen. »Schon gut, schon gut, ich werde dich nicht mehr daran hindern.«
Aus seinem Beutel zog er einen zweiten hervor, in den er einen kleinen, prall gefüllten Ledersack stopfte. Zuletzt nahm er die Laterne und holte tief Luft.
»Ich geh' jetzt hinein. Wenn ich fertig bin, klopfe ich und du lässt mich heraus. Wünsch mir was, Ninian.«
Die schwarzen Augen glitzerten.
»Viel Glück, Jermyn, ich warte auf dich.«
Angesteckt von seiner Erregung beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange. Er starrte sie an und zögerte, dann wandte er sich brüsk ab und drückte den Schuppenleib hinunter. Die Tür öffnete sich und er schlüpfte durch den sich unerbittlich schließenden Spalt in die geheime Kammer des Ehrenwerten Fortunagra.
Nachdem er verschwunden war, stand Ninian einige Herzschläge lang reglos in der Stille, die das große Haus umfing. Schließlich löschte sie drei der Kerzen und ging zum Fenster. Es würde eine Weile dauern, bis er das Klopfzeichen gab und die Zeit verging nicht schneller, wenn sie wie gebannt die geschnitzte Wand anstarrte.
Sie lehnte ihre Stirn an die kühlen Glasscheiben, ein Streifen Mondlicht, der durch einen Spalt im Fensterladen fiel, schien ihr hell ins Gesicht.
Der gleiche Mond hatte gestern Nacht Bahnen aus Licht auf ihre Decke geworfen. Hellwach hatte sie in ihrem Bett in Elys Haus gelegen und ihre Gedanken waren im Kreise gelaufen.
Am Mittag hatte sie im Stadthaus, ohne es zu wollen, ein Gespräch zwischen Hauptmann Duquesne und einem seiner Männer gehört.
»Ich hab ihn und die anderen in den Schwarzen Hahn bestellt. Du wirst ihn leicht erkennen, rothaarig, schmächtig und unbeschreiblich dreist. Seine Gedankenkräfte sind nicht zu unterschätzen, verschließe dich, so gut du kannst. Er wird eine Stunde nach Sonnenuntergang erscheinen, aber du solltest früher da sein.«
Es hatte sie wie ein Schlag in die Magengrube getroffen, der Appetit war ihr vergangen.
Wen anders als Jermyn konnte er meinen? Unbemerkt, ohne zu essen, hatte sie das Stadthaus verlassen.
Sie hatte kaum glauben können, dass ihr nach drei Wochen vergeblicher Suche ein solcher Zufall zu Hilfe kam. Und wenn es so war, wenn sie Jermyn endlich gefunden hatte, was erwartete sie? Hatte er sein altes Leben aufgenommen? Galten seine Abschiedsworte noch? Und vor allem: Was erwartete er von ihr?
Mit solchen Fragen im Kopf konnte man nicht schlafen. Sie war aufgestanden und hatte, wie schon einmal vor vielen Wochen, mitten in der Nacht ihr Bündel geschnürt. Die Kleider von
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