AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
allgemeinen kletterte er voran und sie folgte seinem Weg.
»Damit ich sehe, wie du alleine zurechtkommst, Ninian. Bist ja schon ganz allein hinauf. Also, keine Panik, los geht's!«
Er machte eine übertrieben einladende Geste. Stumm wandte sich Ava zur Mauer und begann hinaufzuklettern. Wie immer ärgerte sie seine großspurige Art, aber sie wollte ihm nicht den Gefallen tun, ihren Ärger zu zeigen.
Bald hatte sie ihn über der Suche nach sicheren Griffen und Tritten vergessen und achtete nur noch auf den Aufstieg. Hier, an dieser Stelle, war letztes Mal der Stein unter ihrem Fuß weggebrochen, sie musste einen anderen Halt finden. Links über ihr war eine Mauerritze, vorsichtig legte sie ihre Hand hinein und verlagerte probeweise ihr Gewicht. Es hielt und sie schob sich langsam hoch, die Kraft aus den Beinen holend, nicht aus den Armen, wie Jermyn es ihr gezeigt hatte. Jetzt kam der kleine Vorsprung, auf den sie den Fuß setzen konnte, und so ging es immer weiter hinauf, bis sie sich über die Balustrade des ersten Balkons schwang. Sie atmete tief durch und sah Jermyn, der hinter ihr heraufkletterte, fragend an.
»Weiter?«
»Ja, ja, komm schon, zier dich nicht.«
Wortlos kletterte sie weiter. Sie spürte seine Blicke unter sich und war froh, als sie den zweiten Balkon erreicht hatte.
»Nun, werter Meister, zufrieden?«, fragte sie gereizt, als er neben ihr stand.
»Ja, doch, reg dich nicht auf. Du machst das wirklich gut, hast ein sicheres Gespür für den Weg und ein gutes Gedächtnis. Die eine Stelle war brüchig und du hast es dir gemerkt. Ich sag's ja, du bist die geborene Fassadenkletterin.«
Er feixte übermütig und sie grinste zurück. Es war ein zweifelhaftes Lob, aber sie freute sich trotzdem. Sie setzten sich in den Lumpen zurecht und Ava holte aus ihrem Beutel Äpfel und Gebäck, die sie beim Abendessen eingesteckt hatte. Jermyn zog eine Flasche heraus und als sie ihn misstrauisch ansah, erklärte er unschuldig: »Nur Dünnbier, ganz harmlos.«
Eine Weile saßen sie einträchtig nebeneinander, aßen und tranken und beobachteten das Wetterleuchten über der Ebene.
»Meine Eltern haben sich angekündigt«, sagte Ava unvermittelt. Sie wies mit dem Kinn zum Mond empor, an dem die ersten Wolkenfetzen vorübersegelten. »Wenn er wieder voll ist, kommen sie.«
Jermyn hob die Brauen.
»Ist das üblich? Ich dachte, die Väter dulden keine Besuche.«
Sie zuckte die Schultern.
»Vielleicht ist es bei fürstlichen Familien anders. Meine Eltern besuchen ja nicht nur ihre Tochter, sondern auch die Thronerbin.«
»Also dürfen wir auch den Patriarchen hier erwarten? Schöne Aussichten«, er rümpfte die Nase.
Ava kicherte. »Du brauchst dich ja nicht blicken lassen, wenn du Angst vor ihm hast.« Sie erinnerte sich an die Prügel, von denen Donovan so unvorsichtig gesprochen hatte. Jermyn knurrte nur. Ava sah ihn von der Seite an. Er hatte die schwarzen Brauen finster zusammengezogen und das schwindende Licht enthüllte bittere Linien. Sein Gesicht war trotz seiner Jugend gezeichnet wie das eines viel älteren Menschen.
Ohne sich zu besinnen, fragte sie:
»Jermyn, was machst du, wenn deine Zeit hier vorbei ist?«
»Ich weiß nicht, wahrscheinlich gehe ich nach Dea zurück, wo soll ich sonst hin?«, antwortete er gleichgültig.
»Und was willst du dort machen? Weiter stehlen und einbrechen?«
Sie wünschte sofort, sie könnte die Worte zurücknehmen. Er fuhr herum und sah sie mit brennenden Augen an.
»Und du?«, fragte er leise, »was machst du, wenn sie dich hier rausschmeißen?«
Ihr war nicht wohl unter seinem Blick. »Ich gehe in meine Heimat zurück und bereite mich auf meine Aufgabe vor«, antwortete sie so unbefangen wie möglich.
Er grinste bösartig. »Jaja, das würde die brave Lady Ava machen. Aber was ist mit Ninian?«
Avas Kopfhaut kribbelte. »Es gibt keine Ninian«, flüsterte sie.
»Oh, doch und das weißt du auch. Ava ist lieb und sanft, sie faucht und spuckt nicht wie eine wütende Katze, wenn man sie ärgert. Ninian tut das, Ninian klettert ohne Seil an verbotenen Türmen hoch, sie trifft sich mit einem miesen Kerl aus der Gosse, erzählt ihm ihre Geheimnisse ...«
Er brach ab. Die friedliche Stille war verschwunden, die Luft zitterte zwischen ihnen.
Ava wagte nicht, sich zu rühren. Die Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, sie konnte Jermyn nur schemenhaft sehen. Er bewegte sich, rückte näher und sie wusste nicht, ob sie ihn atmen hörte oder ob er ihren Namen
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