AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Blick fiel auf das Kleid, das die Fürstin aus der Truhe hob. Sie zog erstaunt die Brauen hoch.
»Warum hast du das mitgebracht? Dies ist doch nur ein kleiner Besuch. Es gibt keinen großen Empfang, oder?«
Das Kleid aus schimmerndem weißen Brokat war nach der neuesten Mode aus der großen Stadt geschneidert, mit eckigem Ausschnitt, engem Mieder und rundem, schleppendem Rock. Doch Ava schnappte nach Luft, als sie den hauchzarten Schleier sah, der an den Schultern und den langen Ärmeln befestigt war und bis zum Boden hinabfiel. Die Fürstin trat in eine dunkle Ecke des Gemachs und hielt das Gewand hoch. Ein sanftes, silbriges Leuchten spielte wie Mondlicht über den weißen Stoff des Kleides.
»Ein Mondenschleier. Mutter, hast du jetzt eine Mondenweberin unter deinen Mädchen?«
»Noch nicht, obwohl ich Hoffnung für Neela habe«, die Fürstin lächelte. »Nein, den Schleier schickt dir Lalun und auch das Kleid. Ich habe den Stoff gewebt und sie hat es in Dea für dich machen lassen. Sie meinte, mit sechzehn seist du alt genug um ein solches Kleid zu tragen. Und du wirst durchaus Gelegenheit dazu finden. Morgen trifft der Patriarch von Dea ein. Es wird einen offiziellen Empfang, ein Gastmahl und einen Ball geben. Dein Vater war verärgert, aber was sollte er machen? Immerhin ist Donovan auch hier und der Fürst reist immer mit großem Gefolge.«
Ava runzelte die Stirn. »Und wer soll den Ball besuchen? Die anderen Schüler?« Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte: der brave Bauer Quentin und Jermyn.
»Was redest du?«, erwiderte die Fürstin, »der Patriarch bringt einige junge Edelleute aus seiner Umgebung mit und seine Gemahlin ihre Fräulein. Aber die anderen Schüler sind herzlich zum Abendessen eingeladen, wenn sie kommen wollen. Mach nicht so ein finsteres Gesicht, Kind, ich dachte, ein junges Mädchen freut sich darauf, in einer herrlichen Robe auf einen Ball zu gehen, nach all diesen ruhigen, eintönigen Monaten. Sieh nur, wie schön es ist.« Sie hielt das Kleid hoch und betrachtete es liebevoll, aber Ava sah nicht hin.
Nein, es war nicht ruhig gewesen und bestimmt nicht eintönig.
Das Abendessen war vorbei und es war so schrecklich verlaufen, wie Ava gefürchtet hatte. Der Patriarch hatte sich mit ausgesuchter Höflichkeit um ihre Mutter bemüht. Doch Elenor von Tillholde schätzte die höfische Lebensart nicht, sie hatte nur einsilbig geantwortet und unbeholfener gewirkt als sie war. Avas Vater konnte mit der Koketterie der reizenden, jungen Gemahlin des Patriarchen nichts anfangen, in seinem ungeliebten Feststaat hatte er steif und hölzern am Tisch gesessen. Die Guten Väter hatten sich große Mühe mit den Speisen und der Unterhaltung gegeben, aber bei den blasierten jungen Herren und den kichernden Fräulein des Patriarchen fanden sie wenig Dank. Das Gefolge des Fürsten von Tillholde war, dem Beispiel seines Herrn folgend, in missbilligendes Schweigen versunken.
Ava schleuderte die Schuhe von den Füßen.
Am unerträglichsten aber war Donovan gewesen. In der letzten Zeit hatte er seine gespreizte, schwärmerische Art abgelegt, notgedrungen, wenn er sich nicht Jermyns scharfer Zunge aussetzen wollte. Heute Abend jedoch hatte er sich sicher gefühlt, weder Quentin noch Jermyn hatte die Einladung angenommen.
Quentin hatte höflich abgelehnt – ein einfacher Bauer wie er gehöre nicht unter solch vornehme Leute, aber er danke für den guten Willen. An Jermyns Antwort dachte sie lieber nicht. Sie war nicht sicher, was die Schimpfworte bedeuteten, die er benutzt hatte, aber sein Blick war beleidigend genug gewesen. Den ganzen Tag hatte er sich nicht blicken lassen, nachdem er erfahren hatte, dass auch der Patriarch mit großem Gefolge eintreffen würde.
Ava hob die Arme, als die Kammerfrau der Fürstin herantrat, um ihr aus dem Festkleid zu helfen. Es war das einzige festliche Gewand, das sie mitgebracht hatte. Die Fürstin hatte es aus feinster, eisvogelblauer Wolle gefertigt, weil Ava diese Farbe liebte. Lange hatte sie es vor allen anderen Kleidern geschätzt, aber seit sie es zuletzt getragen hatte, war es an den Armen zu kurz und über der Brust zu eng geworden.
Die weiße Robe würde dort genau passen und viel mehr Haut enthüllen, darauf hatte Lalun gewiss geachtet.
Ava stöhnte. Ihr graute vor dem Ball. Donovan würde sie anschmachten und ihr Albernheiten zuflüstern. Die hochnäsigen jungen Herren würden um sie herumscharwenzeln. Trotzdem musste sie freundlich
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