AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
einem verspielten Labyrinth. Erbaut hatte ihn einer ihrer Liebhaber, ein Edelmann aus Dea, der es lange in Tillholde ausgehalten hatte, in der Hoffnung, Lalun ganz für sich zu gewinnen. Am Ende hatte sie ihn fortgeschickt, wie sie es früher oder später mit all ihren Männern getan hatte.
Ava ließ sich von einem der hübschen Pagen, die ihre Tante als Diener bevorzugte, anmelden und folgte ihm in das prächtige Schlafgemach, dem größten Raum des Pavillons. Lalun kam ihr entgegen und schloss sie in ihre duftenden Arme. Ava erwiderte die Umarmung flüchtig und brachte brüsk ihr Anliegen vor:
»Tante«, sie sagte es absichtlich, denn Lalun liebte die würdevolle Anrede nicht, »ich bitte dich, mir deinen Mondenschleier für eine kurze Weile zu überlassen, damit ich ihn Neela zeigen kann. Ich werde ihn nicht lange behalten.«
Wenn sie gehofft hatte, die Sache schnell hinter sich zu bringen, so hatte sie sich geirrt. Lalun hob die zart gestrichelten Brauen.
»So«, sagte sie mit ihrem süßen Lächeln, »meinen Mondenschleier möchtest du haben? Weißt du, wie kostbar dieses Gewebe ist?«
Ava nickte ungeduldig.
»Natürlich weiß ich das. Ich verspreche, dass ich ihn wie meinen Augapfel hüten werde, wenn es dich beruhigt.«
Lalun schüttelte den Kopf.
»Nein, das meine ich nicht. Gewiss sollst du ihn bekommen. Ich habe ihn dir doch schon einmal geliehen, nicht wahr?«, sie warf Ava einen schelmischen Blick zu und lachte klingend als das Mädchen unmutig errötete.
»Was glaubst du, wie viele Frauen so einen Schleier besitzen? Einfache Frauen, keine regierenden Fürstinnen. Siehst du, es sind nicht viele, vier oder fünf vielleicht und weißt du, was sie alle gemeinsam haben?«
Sie bekam keine Antwort auf ihre Frage.
»Sie wurden alle innig geliebt, so sehr, dass die Männer sich für dieses Geschenk ruinierten, stahlen, ja sogar dafür mordeten.«
Sie sprach versonnen, doch als sie Avas abweisende Miene sah, lachte sie wieder.
»So schlimm war es bei mir nicht. Mein Schleier sollte eine fürstliche Braut schmücken, aber der Bräutigam hat es sich anders überlegt, nachdem er mich gesehen hatte. Er schmückte mich damit und eine Weile waren wir glücklich.«
Mit zärtlichem, nachsichtigem Lächeln zog sie einen kleinen goldenen Schlüssel hervor, der an einer feingliedrigen Kette zwischen ihren Brüsten hing, schob den seidenen Wandbehang neben ihrem Bett beiseite und öffnete eine kleine Tür in der Wand. Sie holte ein Kästchen aus honigfarbenem, duftendem Holz hervor und winkte Ava in ein kleines Kabinett, in dem nur ein großer Spiegel in vergoldetem Rahmen stand. Sie schloss die schweren Vorhänge und hob den Deckel.
»Man muss ihn in Ehrfurcht betrachten, er ist ein großes Wunder«, sagte sie leise und unwillkürlich hielt Ava den Atem an. Licht quoll hervor, das blassgoldene Licht eines Vollmondes im Hochsommer. Lalun tauchte vorsichtig ihre Hand in den Schimmer und zog das leuchtende Gewebe heraus. Sie gab Ava das Kästchen und hüllte sich in den Mondenschleier ein. Er umschloss ihre ganze Gestalt und Ava staunte über die Feinheit des Stoffes, dessen ganze Fülle in das kleine Behältnis gepasst hatte.
Lalun betrachtete sich im Spiegel, das Lächeln war aus ihrem Gesicht gewichen. Ein schmerzlicher Zug lag um ihre vollen Lippen, der Blick der blauen Augen war nach innen gerichtet. Sie seufzte und sah das junge Mädchen mit ungewohntem Ernst an.
»Nicht jedem Menschen begegnet eine große Liebe, Ava, aber wenn es geschieht, so ist es ein Geschenk der Götter, an dem man freilich auch verzweifeln kann. Entscheidet man sich für diese Liebe, kann es sein, dass man einen hohen Preis bezahlt. Aber wenn man dazu bereit ist, wenn man den Mut in sich findet, so macht sie das Leben überaus reich und sei es nur für eine kleine Weile.«
Ava spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich, plötzlich fiel ihr das Atmen in dem engen Gelass schwer. Hastig wandte sie sich ab und verließ das Kabinett. In Liebesdingen war Lalun hellsichtig, sie konnte in den Herzen der Menschen lesen.
Sie folgte Ava und erklärte mit ihrer üblichen süßen Stimme:
»Zeig den Schleier deiner Weberin, aber verschweige ihr seine Herkunft. Die Mondenweberinnen meinen, ihre Werke sollten nur Altäre und Throne schmücken, nicht uns arme, schwache Liebende.«
Sie lachte leise, legte das schimmernde Gespinst, dessen Glanz im hellen Tageslicht verblasste, sorgfältig zurück in das Kästchen und reichte es ihrer Nichte. Ava
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