AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
dankte ihr mit mehr Wärme, als sie sonst für ihre Tante empfand. Als sie sich verabschieden wollte, hielt Lalun sie zurück.
»Warte noch einen Augenblick, meine Liebe, ich habe etwas für dich.«
Sie verschwand in der Kammer, die ihre zahllosen Kleider enthielt und kehrte mit einem in Leinen gehülltes Bündel zurück.
»Hier, das habe ich von Meister Laurentes machen lassen, dem besten Schneider von Dea. Es ist nach deinen Maßen gefertigt. Ich schenke es dir und ich hoffe, du trägst es und sei es nur um meinetwillen. Schau es an.«
Ava nahm das Bündel misstrauisch in Empfang. Diese Lalun war ihr vertraut, süß, liebenswürdig und ein wenig boshaft. Sie legte das Bündel auf das Bett und öffnete es.
Zum Vorschein kam silbergrauer, schillernder Samt und mit bösen Vorahnungen hob Ava das erste Kleidungsstück hoch. In der Hand hielt sie die Jacke zu einem Reitkleid. Die Ärmel waren nach der Mode geschlitzt, der breite Ausschnitt würde reichlich viel von ihrer Leibwäsche enthüllen und der modisch enge Schnitt umso weniger von ihrer Gestalt verbergen. Auch der Rock war eng, mit hohen Schlitzen versehen. Ein Paar schwarze Beinlinge würde ihre Beine verhüllen, dennoch wäre die Wirkung der Robe ungemein aufreizend.
Ava verzog das Gesicht. Wenn sie in diesem Aufzug durch die Gegend ritt, gäbe es etwas zum Gaffen! Damit sollte sie also auf Männerfang gehen, das hatte Lalun sich fein ausgedacht!
Sie packte die Sachen achtlos zusammen und sagte kalt:
»Ich danke dir, liebe Tante, aber ich werde nicht viel Gelegenheit haben, so etwas Elegantes zu tragen. Es wäre wohl bald verdorben, wenn ich mit Vater über Land reite.«
Lalun zuckte die zarten Schultern. Leichthin meinte sie:
»Wer weiß, vielleicht kannst du es doch einmal brauchen. Geh jetzt, liebe Nichte, dein Besuch hat Erinnerungen wachgerufen. Ich will ihnen ein wenig nachhängen.«
Neela wartete schon, als Ava zu ihrem Gemach zurückkehrte. Sie warf Laluns Geschenk in ihre Kleidertruhe, schloss die Fensterläden und öffnete das Kästchen. In ehrfürchtigem Schweigen hob die Weberin das Gewebe heraus und sein zartes Licht erhellte ihr andächtiges Gesicht.
»Welche Meisterschaft«, murmelte sie, »was für ein wunderbarer Schimmer, so fein gewebt.«
Sie bat Ava, das Tageslicht hereinzulassen, und betrachtete den Stoff mit geübtem Auge. Lautlos bewegten sich ihre Lippen und ihre Umgebung schien sie vergessen zu haben.
Plötzlich schüttelte sie den Kopf.
»Ob ich das lernen werde?«, fragte sie zweifelnd.
»Warum nicht?«, meinte Ava, »du bist eine gute Weberin. Im Kloster werden sie es dir schon beibringen.«
Neela schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht nur eine Fähigkeit, die man erlernen kann. Es ist eine Gabe. Man muss das Licht einfangen können. Es gibt hervorragende Weberinnen, die nie einen Mondenschleier weben könnten. Niemand weiß genau, bei wem die Fähigkeit auftritt und bei wem nicht. Aber er sollte dem Tageslicht nicht zulange ausgesetzt sein.«
Geschickt faltete sie den Schleier zusammen und legte ihn ehrerbietig in das Kästchen zurück. Ein letztes Mal strich sie liebkosend über das zarte Gewebe und schloss den Deckel. Ava wollte sie noch nicht gehen lassen, das Gespräch lenkte sie ab.
»Weißt du, wie sie gewebt werden?«
Neela nickte.
»Eure Mutter hat es mir oft erzählt, Lady Ava. Deshalb liegt das Kloster so hoch in den Bergen, wo die Luft klar und ungetrübt ist. Oberhalb der Klostergebäude, in der Nähe der Gipfel sind große Plattformen errichtet, auf denen die Webstühle stehen. Wenn der Mond voll ist oder die Sterne besonders hell am Himmel stehen, ziehen die Weberinnen die Kettfäden auf und beginnen zu weben. Die Fäden sind fein wie Spinnweben und das Licht muss die ganze Zeit auf den Webfaden fallen. Die Weberinnen müssen arbeiten, solange das Licht reicht, wenn der Faden reißt, ist die Arbeit umsonst gewesen. Das Licht darf nicht gemischt werden. Ein Schleier, der im Winter begonnen wurde, muss im Winterlicht des Mondes vollendet werden und wenn der Winter vorüber ist und der Himmel immer bedeckt war, kann man erst im nächsten Winter an diesem Schleier weiterarbeiten. Solange muss er in völliger Dunkelheit aufbewahrt werden. Dies ist ein Sommerschleier. Einer der geringeren Schleier«, erklärte Neela mit unbewusster Herablassung. Ava musste sich das Lachen verbeißen. Was würde Lalun wohl zu dieser Beschreibung sagen?
»Die Winterschleier sind kostbarer?«
»Oh ja, es kostet große
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