AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Mühe, einen solchen Schleier herzustellen. Die Weberinnen müssen in beißender Kälte ausharren. Doch sind die Winterschleier den Herrschenden vorbehalten. Dann gibt es noch die Sternenschleier, aber von denen weiß niemand viel, da sie so selten sind, nur den Göttern stehen sie zu. Das Licht der Sterne ist in ihnen eingefangen und die Herrin sagte, dass ein solcher Schleier viele Weberinnen braucht und das manche über der Arbeit sterben.«
»Und das würde dich nicht schrecken?«, fragte Ava, als sie das hingebungsvolle Leuchten in Neelas Gesicht sah.
»Nein, ich würde es in Kauf nehmen. Warum sollte ich den Tod fürchten, wenn ich das machen kann, was ich mir am meisten wünsche?«
Ava starrte sie an, bestürzt von der Leidenschaft in Neelas Stimme. Was hatte Lalun über den Preis der Liebe gesagt? Plötzlich schwankte der Boden unter ihren Füßen, haltsuchend griff sie nach dem Bettpfosten und Neela erwachte aus ihrem Traum.
»Was ist Euch, Fräulein?«, rief sie erschrocken, »Ihr seid ganz weiß geworden. Setzt euch.«
»Es ist nichts, ich bin nur erschöpft, ich schlafe schlecht«, erwiderte Ava mühsam.
»Verzeiht mir, ich habe Euch ermüdet. Es tut mir so leid«, Neela rang zerknirscht die Hände, »ich werde jemanden herbeirufen, Eure Mutter oder die Heilerin.«
»Nein, nein«, wehrte Ava beinahe heftig ab, »niemand soll kommen. Ich brauche nur etwas Ruhe. Ich bitte dich, bring den Schleier der Herrin Lalun zurück. Bei dir ist er in guten Händen.«
»Verlasst Euch auf mich, Lady Ava, und ich danke Euch von ganzem Herzen.«
Neela nahm das Kästchen und verließ nach einem tiefen Knicks die Kammer.
Ava ließ sich auf ihr Bett sinken und schloss die Augen. Sie fühlte sich elend und zerschlagen. Wen sollte sie um Hilfe bitten? Die Antworten ihrer Eltern und der Tanten kannte sie. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, sie war bereit, ihre Pflicht zu tun, aber ihr brach das Herz dabei.
Die Eltern regierten seit zwanzig Jahren, sie waren gesund und kräftig, es konnten ohne Weiteres noch einmal zwanzig Jahre vergehen, ehe die Herrschaft auf Ava überging. Und sie war erst siebzehn – was sprach dagegen, dass sie das Reich ebenso lange wie ihre Eltern führen würde? Sechzig Jahre standen ihr bevor, sechzig Jahre, in denen alle Tage wie dieser vergingen ...
Sie sprang auf und trat an das Fenster. In der frühen Dämmerung des Frühlingstages lag der Hof tief unter ihr, aber nicht tief genug. Die Steine, durchdrungen vom Willen der Erdenmutter, würden sich weigern, ihr zu schaden, und nachgeben, so weit es ihnen möglich war. Wahrscheinlich brach sie sich nur die Beine, was ihren Eltern Kummer und ihr selbst Schmerzen bereiten, aber nichts an ihrer Lage ändern würde.
Ein Aufschrei aus vielen Kehlen ließ die Scheiben leise klirren. Ava schreckte auf, sie öffnete das Fenster und beugte sich hinaus.
Eine stattliche Menge Gaffer hatte sich im Schlosshof versammelt und starrte zum westlichen Torturm hinauf. Ava lehnte sich weiter vor, um besser zu sehen.
Wie es schien, war nicht nur sie des Lebens überdrüssig. Jemand turnte auf der Tormauer herum, sie erkannte ein buntes Gewand und eine gehörnte, mit Schellen besetzte Kappe.
Der Gaukler, Imekes Gaukler ...
Trieb er seine Possen jetzt auf den Zinnen? Er sprang von einer zur anderen, aber beim Aufkommen schwankte er gefährlich. In den Händen hielt er eine Stange mit einer Verdickung an einem Ende. Ungläubig erkannte Ava, dass es ein Kochlöffel war, beinahe mannshoch, wie sie in der Küche für die großen Kessel verwendet wurden. Der Narr benutzte ihn, um sein Gleichgewicht zu halten, mehr schlecht als recht, wie es aussah.
Ava drehte sich auf dem Absatz um und rannte in den Hof hinunter. Das ganze Küchenvolk stand dort und starrte nach oben. Einige lachten, aber die meisten hielten den Atem an oder hatten die Hände erhoben, um sich die Augen zuzuhalten, wenn das Spiel dort oben ein schlimmes Ende nahm. Keiner machte Anstalten, dem gefährlichen Treiben ein Ende zu setzen.
»Lasst mich durch!« Aufgebracht drängte Ava sich durch die Menge und die Menschen wichen respektvoll zurück.
In der vordersten Reihe traf sie auf Imeke und Berit. Die junge Frau starrte wie gebannt zu ihrem tollkühnen Liebsten hinauf. Sie hatte einen Schürzenzipfel in den Mund gesteckt und beachtete Ava nicht, aber Berit humpelte zu ihr und umklammerte ihren Arm.
»Kannst du nicht was tun, mein Täubchen? Dieser Narr von einem Gaukler wird sich noch
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