AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
sie zu sich. Auf dem Tisch lagen die großen Sternkarten und Tabellen ausgebreitet und sie kam sofort zur Sache.
»Ich will dir etwas zeigen, Avaninian. Hier, das ist die Stellung der Sterne zum Zeitpunkt deiner Geburt.«
Ava beugte sich vor, trotz ihres Ärgers fasziniert von dem Gewirr feiner Linien, die von verschiedenen Punkten auf der Karte in einem schimmernden Fleck zusammenliefen.
»Das bist du«, Eyra deutete auf den Fleck, »und von hier wirst du am meisten beeinflusst.«
Sie legte ihre Hand auf einen leuchtenden Strahl, der seinen Ursprung im Herzen einer Figur hatte, die mit zwölf anderen Figuren am Rande der Sternenkarte schwebte. Als Ava genauer hinsah, erschrak sie.
Zwei weibliche Gestalten waren es, am Rücken zusammengewachsen. Ein langes Gewand verhüllte die eine, ihre Flechten waren züchtig hochgesteckt und sie trug eine Spindel in der freien Hand. Die andere war nur spärlich bekleidet, Arme und Beine waren nackt. Ihre wilde Haarmähne flatterte offen um ihre Schultern und sie schwang einen Speer. Auf dem Gesicht der ersten Figur lag sanfter Ernst, die zweite runzelte grimmig die Stirn. Sie konnten sich nicht ansehen, aber ihre freien Hände waren fest ineinander verschlungen. Ava sagte tonlos:
»Ava und Ninian.«
»Ja, die Herrin AvaNinian. Verstehst du jetzt, warum ich darauf bestand, dass du diesen Namen bekommst? Sie nimmt einen starken Anteil an dir. Ich habe selten so einen eindeutigen Einfluss gesehen. Es ging nicht an, die Herrin zu verärgern.«
Eyra sprach mit unerschütterlicher Sicherheit und Ava war wider Willen beeindruckt.
»Ich dachte, Avaninian sei nur eine Stammesgottheit, die in Vergessenheit geraten ist«, murmelte sie.
Eyra schnaubte verächtlich.
»Und da glaubtest du, sie sei verschwunden? Es stimmt, eine Zeitlang ist ihr hier große Verehrung zuteil geworden, aber sie ist viel mehr als eine Stammesgottheit. Sie ist der zweifache Aspekt alles Weiblichen, sein heller und sein dunkler Teil, Sanftmut und Wildheit. Aber sieh«, der Finger folgte den leuchtenden Strahlen, »wie sich die Linien wandeln. Hier kommen sie aus dem Herzen der Herrin Ava – das ist die Zeit deiner Kindheit, aber hier, siehst du, hier verschwindet die Linie plötzlich und Dunkelheit breitet sich aus. Die Veränderung begann kurz vor deiner Abreise ins Haus der Weisen und seitdem hat sie sich nicht gehoben. Ich kann nicht sehen, unter welchem Einfluss du jetzt stehst oder in der Zukunft stehen wirst. Vielleicht liegt es in deiner Hand, ich weiß es nicht, aber ich hoffe, du wirst die richtige Wahl treffen. Von dir hängt viel ab, mein Kind: Nichts weniger als das Wohl dieses Landes und seiner Bewohner!«
Ava antwortete nicht, sie war wie erstarrt. Ja, es lag an ihr, das wusste sie schon lange. Aber hatte sie sich nicht schon entschieden? Warum zeigten die Sterne nicht, dass sie richtig gewählt hatte?
»Siehst du noch andere Einflüsse?«
Die Frage war heraus, bevor Ava sie recht bedacht hatte und Eyra stieß darauf nieder wie ein Raubvogel.
»Was meinst du? Fühlst du noch eine andere Macht? Hängt es mit deinen Kräften zusammen?«
Ava erschrak. Sie wollte ihre Verbindung zur Erdenmutter nicht preisgeben, niemand sollte davon wissen. Niemand, außer einem.
»Avaninian?«
Der Ärger half ihr aus der Verlegenheit.
»Es ist schon gut, ich habe gesehen, was ich sehen sollte.«
Eyra musterte sie lange aus ihren kalten, dunklen Augen.
»Wie du meinst. Aber bedenke meine Worte und was ich dir gezeigt habe. Geh jetzt, ich habe noch meine letzten Beobachtungen auszuwerten.«
Ava verließ sie grußlos.
In ihrer Kammer warf sie sich auf ihr Bett und blieb reglos liegen. Die Eindrücke des Tages wirbelten durcheinander und sie bohrte den Kopf in die Kissen, um die Gedanken zu ersticken.
Imeke und ihr Gaukler, Neela mit ihren Hoffnungen, die Vorhaltungen der Mutter, die Geldnöte des Vaters, Eyras dunkle Andeutungen und Jermyn, immer wieder Jermyn ...
Verstört setzte sie sich auf. Wie sollte sie diesem Gespinst entkommen, wohin sich wenden? Ihr fiel ein, dass sie versprochen hatte, Neela den Mondenschleier zu zeigen. Dazu musste sie Lalun aufsuchen und das war das Letzte, wonach ihr der Sinn stand. Aber sie erinnerte sich an die Begeisterung der jungen Weberin. Sie konnte Neela nicht enttäuschen und so machte sie sich widerstrebend auf den Weg zu ihrer zweiten Tante.
Lalun lebte in einem zierlichen Pavillon, inmitten eines großen Gartens mit vielen Lauben, versteckten Bänken und
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