Ave Maria - Roman
größer. Ali. Wie der Größte.
Meine Gedanken blieben relativ unbeschwert, bis wir abends zurück zum Haus kamen. Ich unterhielt mich noch eine Zeit lang mit Christine auf der Veranda. Ich wollte nicht ins Haus gehen, aber auch noch nicht abfahren. Und wenn ich mich nicht irrte, waren ihre Augen gerötet. Seit ich sie kannte, hatte sie Stimmungsschwankungen, aber sie schienen schlimmer zu werden.
»Ich nehme an, jetzt bin ich an der Reihe, dich zu fragen, ob es dir gut geht«, sagte ich. »Geht’s dir gut?«
»Alles bestens, Alex. Das Übliche. Glaube mir, du willst über meine Angelegenheiten nichts hören.«
»Wenn du eine Romanze meinst, hast du Recht. Aber sonst, nur zu.«
Sie lachte. »Eine Romanze? Nein, ich bin nur ein bisschen überanstrengt zur Zeit. Ich tue mir das immer selbst an. Ich arbeite einfach viel zu hart.«
Ich wusste, dass sie die neue Rektorin einer Privatschule in der Nähe war. Ansonsten hatte ich keinen blassen Schimmer,
wie Christines Leben aussah - und noch viel weniger, weshalb sie geweint hatte, ehe ich mit Alex zurück zum Haus kam.
»Außerdem hatten wir uns doch beim letzten Mal darauf geeinigt, dass ich dich fragen sollte«, sagte sie. »Wie geht es dir? Ich weiß, es ist hart, und es tut mir Leid, was geschehen ist.«
Ich gab ihr einen knappen Bericht über den Mary-Smith-Fall, Nanas letzten Schwindelanfall und dass es Jannie und Damon gut ging. Jamilla erwähnte ich nicht, und sie fragte auch nicht nach ihr.
»Ich habe in der Zeitung von diesen schrecklichen Morden gelesen«, sagte Christine. »Ich hoffe, du bist vorsichtig. Ich bin überrascht, dass eine Frau eine so grausame Mörderin sein kann.«
»Ich bin immer vorsichtig«, sagte ich. Irgendwie lag viel Ironie in der Luft. Offensichtlich stand mein Job für vieles, das zwischen Christine und mir lag, und nichts davon war gut.
»Das ist alles so seltsam, nicht wahr?«, sagte sie unvermittelt. »War es schwieriger als erwartet für dich, heute hier zu sein?«
Ich erklärte ihr, dass ich jede Schwierigkeit auf mich nehmen würde, um Alex zu sehen, aber, dass es für mich nicht leicht war, auch sie zu sehen.
»Auf alle Fälle hatten wir schon leichtere Zeiten, oder?«, fragte sie.
»Ja, aber nicht als Eltern.«
Sie blickte mich an. Ihre dunklen Augen waren intelligent. »Es ist so traurig, Alex, wenn man es genau bedenkt.«
Ich zuckte nur mit den Schultern. Was sollte ich dazu sagen?
Sie legte vorsichtig die Hand auf meinen Unterarm. »Es tut mir Leid, Alex. Ehrlich. Ich hoffe, ich bin nicht unsensibel. Ich weiß nicht, was du fühlst, aber ich verstehe, in welcher Lage du dich befindest. Ich habe mich nur -« Sie sammelte sich für die nächsten Worte. »- nur zuweilen gefragt, welche Sorte Eltern wir wohl geworden wären. Gemeinsam, meine ich.«
Jetzt reichte es. »Christine, du bist unsensibel, oder du willst mir etwas sagen.«
Sie seufzte tief. »Ich mache alles falsch. Wie üblich. Heute wollte ich nichts sagen, aber jetzt ist es raus. So, okay. Hier ist es. Ich möchte, dass Alex ein Leben mit zwei Elternteilen hat. Ich möchte, dass er dich kennt, glaub es oder nicht, und ich will, dass du ihn kennst. Das ist für alle das Beste. Auch für mich.«
Ich trat einen Schritt zurück und ließ ihre Hand von mir abgleiten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Christine. Ich glaubte, es war offensichtlich, dass ich dasselbe wollte. Aber du hast dich entschieden, nach Seattle zu ziehen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Darüber wollte ich mit dir sprechen. Ich überlege, ob ich nicht wieder zurück nach Virginia gehe. Ich bin fast sicher, dass ich das tun werde.«
Jetzt blieb mir fast der Verstand stehen.
56
Vancouver war eine der Lieblingsstädte des Geschichtenerzählers - neben London, Berlin und Kopenhagen. Er flog mit Alaska Air hinauf und musste nach seiner Landung in einer langen Schlange mit ungefähr fünfhundert Besuchern aus Korea und China warten. Vancouver wimmelte von Chinesen und Koreanern, das war das Einzige, was er an dieser wunderschönen kanadischen Hafenstadt nicht mochte.
Er hatte tagsüber in Sachen Film zu tun. Das verdüsterte seine Stimmung. Gegen fünf Uhr nachmittags war er in miserabler Laune und musste irgendwie den aufgestauten Ärger loswerden.
Weißt du, was ich brauche? Ich muss jemandem erzählen, was los ist. Es mit jemandem teilen.
Vielleicht nicht alles, aber einen Teil - wenigstens eine Andeutung, wie unglaublich die ganze Sache war, diese total abartige Periode
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