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Ave Maria - Roman

Ave Maria - Roman

Titel: Ave Maria - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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es gab keine Möglichkeit, dem zu widerstehen. Ich wollte mit ihm ein wenig Zeit verbringen - ich brauchte es.
    Das Haus stand in der Sunnyside Avenue North. Inzwischen kannte ich den Weg. Christine und Ali saßen auf den Stufen der Veranda, als ich dort eintraf. Er rannte wie ein kleiner Tornado auf mich zu. Ich nahm ihn in die Arme und hob ihn hoch. Ich hatte immer ein wenig Angst, einen anderen Jungen zu finden als den, den ich beim letzten Mal gesehen hatte. Doch all das war in der Sekunde wie weggeblasen, als ich ihn in den Armen hielt.
    »Mann, du wirst schwer. Du wirst so groß, Ali.«
    »Ich hab ein neues Buch«, erzählte er mir grinsend. »Eine hungrige Raupe, die alles frisst. Sie kommt ganz plötzlich hoch, und dann frisst sie dich!«
    »Du kannst dein Buch heute mitnehmen. Dann lesen wir es gemeinsam.« Ich drückte ihn nochmal. Ich sah, dass Christine uns aus der Entfernung mit verschränkten Armen beobachtete. Schließlich lächelte sie und winkte mir zu.

    »Möchtest du einen Kaffee?«, rief sie. »Du kannst ihn sicher gebrauchen, ehe ihr beide losfahrt.«
    Ich schaute sie an. Eine stumme Frage hing in der duftenden Luft.
    »Das ist für mich schon in Ordnung«, sagte sie. »Komm nur. Ich beiße nicht.« Sie klang fast fröhlich. Das sollte wohl mich und Ali aufheitern.
    »Komm, Daddy.« Er löste sich aus meinen Armen und ergriff meine Hand. »Ich zeige dir den Weg.«
    Ich folgte beiden ins Haus. War das eine gute Idee? Ich war noch nie zuvor drinnen gewesen. Das Haus war geschmackvoll eingerichtet. In eingebauten Regalen standen Bücher und einige Stücke aus Christines Kunstsammlung. Das Haus war viel gemütlicher als das, in dem sie außerhalb von Washington gewohnt hatte.
    Mich verblüffte, wie natürlich die beiden sich in diesem Raum bewegten, der für mich so fremd war. Ich gehörte nicht hierher.
    Die Küche war offen, sehr hell, und es roch darin nach Rosmarin. Am Fensterbrett stand ein kleiner Kräutergarten.
    Christine stellte eine Tasse mit Schokomilch vor Alex auf den Tisch und vor uns zwei Becher mit dampfendem Kaffee.
    »Seattles Lieblingsdroge«, sagte sie. »Ich trinke viel zu viel davon. Nachmittags sollte ich auf koffeeinfreien umsteigen. Vielleicht schon morgens«, fügte sie lachend hinzu.
    »Schmeckt gut. Der Kaffee. Dein Haus sieht auch großartig aus.«
    Die Unterhaltung war an Banalität kaum zu überbieten, und ich fühlte mich fast so unwohl, als hätten wir uns richtig unterhalten. Ich schwor mir, Christine nicht nach dem
Wetter zu fragen. Die Situation war für uns beide eigenartig.
    Klein Alex rutschte von seinem Stuhl und kam mit seinem neuen Buch zu mir. Er kletterte auf meinen Schoß.
    »Lesen. Okay? Aber vorsichtig, sie kommt hoch, und dann frisst sie dich!«
    Eine gute Ablenkung. Außerdem stand er wieder im Fokus. So sollte es sein. Ich klappte das Buch auf und begann zu lesen.
    »Im Schein des Mondes lag ein kleines Ei auf einem Blatt.«
    Alex legte den Kopf an meine Brust. Ich spürte, wie meine Stimme in ihm vibrierte. Mein Herz schmolz ein wenig. Christine sah uns zu, während ich las. Sie lächelte, hielt den Becher mit beiden Händen umschlossen. Was hätte sein können.
    Wenige Minuten später musste Alex auf die Toilette. Er bat mich, mit ihm zu gehen. »Bitte, Daddy.«
    Christine kam herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Er hat Probleme, mit seinem Schniedel die Schüssel zu treffen. Das ist ihm peinlich.«
    »Aha«, meinte ich. »Hast du Fruit Loops?«
    Zum Glück hatte Christine eine Schachtel. Ich nahm sie mit in die Toilette.
    Dann warf ich ein paar der bunten Kringel in die Schüssel. »Das ist ein cooles Spiel«, erklärte ich ihm. »Du musst mit deinem Schniedel direkt in die Mitte eines Rings zielen.«
    Er versuchte es und war recht erfolgreich - zumindest traf er die Schüssel.
    Ich erzählte Christine von dem Trick, als wir wieder in der Küche waren. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Fruit Loops. Das ist eine Männersache, richtig?«

55
    Der Rest des Tages in Seattle bestand aus weniger Stress und viel mehr Spaß. Ich ging mit Klein Alex ins Aquarium.
    Es war leicht und befriedigend, mich ganz ihm zu widmen. Mit großen Augen starrte er die tropischen Fische an. Im Café des Aquariums richtete er mit seinen Chicken-Fingers und Ketchup eine Riesensauerei an. Von mir aus hätten wir den Tag auch in der Wartehalle eines Busbahnhofs verbringen können.
    Ich liebte es, ihm zuzuschauen, wenn er ganz in etwas vertieft war. Er wurde jedes Mal

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