Ave Maria - Roman
darauf, Mary Wagner wiederzusehen. Neugier trieb mich ebenso stark wie Verpflichtung. Das LAPD hatte es offensichtlich seit Tagen nicht geschafft, dass sie mit ihnen sprach. Deshalb wollten sie, dass ich zurück nach Kalifornien käme, um ihnen zu helfen. Und ich musste es auch tun - etwas störte mich immer noch an diesen Mordfällen, auch wenn Mary so schuldig war, wie es den Anschein hatte.
Selbstverständlich wollte ich die Reise so kurz wie möglich halten. Ich ließ deshalb abgesehen von der Zahnbürste alles im Koffer, als ich im Hotel in L.A. war. Wahrscheinlich half mir das zu glauben, dass mein Aufenthalt nur kurz wäre.
Meine Befragung Mary Wagners war für zehn Uhr am nächsten Morgen angesetzt. Ich überlegte, ob ich Jamilla anrufen solle, entschied mich aber, es nicht zu tun. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass es mit uns endgültig
aus war. Ein trauriger Gedanke, aber ein wahrer. Ich war sicher, dass wir das beide wussten. Wessen Schuld war es? Ich wusste es nicht. War es sinnvoll oder wichtig, einem die Schuld zu geben? Wahrscheinlich nicht, dachte Dr. Cross.
Ich verbrachte den Abend damit, die Berichte und Abschriften der vergangenen Wochen nochmal durchzugehen, die mir van Allsburg mit Boten hatte bringen lassen. Laut allem, was ich las, schienen die drei Kinder - Brendan, Ashley und Adam - das Einzige zu sein, womit Marys Gedanken sich beschäftigten.
Damit war meine Marschrichtung ziemlich klar. Wenn die Kinder alles waren, woran Mary dachte, dann würden wir morgen damit beginnen.
104
Um acht Uhr fünfundvierzig morgens befand ich mich in einem anderen, wenngleich identisch aussehenden Raum wie dem, in dem ich Mary Wagner beim letzten Mal befragt hatte.
Der Schließer brachte sie ganz pünktlich - fast auf die Sekunde. Ich sah auf Anhieb, dass die mehrtägigen Verhöre ihren Tribut gefordert hatten.
Sie schaute mich nicht an, saß nur stoisch da, während der Beamte sie an den Tisch fixierte.
Dann bezog er im Zimmer neben der Tür Posten. Eigentlich passte mir das gar nicht, aber ich erhob keine Einwände. Vielleicht könnte ich, falls es eine zweite Befragung gäbe, alles etwas lockerer gestalten.
»Guten Morgen, Mary.«
»Hallo.«
Ihre Stimme klang neutral, ein minimales Anzeichen, dass sie die Regeln befolgte. Aber trotzdem kein Augenkontakt. Ich fragte mich, ob sie schon früher im Gefängnis eingesessen hatte. Und wenn ja, weshalb?
»Lassen Sie mich Ihnen erklären, warum ich hier bin«, sagte ich. »Mary, hören Sie mir zu?«
Keinerlei Reaktion bei ihr. Sie biss auf die Zähne und öffnete den Mund, dabei starrte sie auf einen Punkt an der Wand. Ich spürte, dass sie zuhörte, das aber nicht zeigen wollte.
»Sie wissen ja bereits, dass es gegen Sie sehr viele Beweise gibt. Und ich glaube, Sie wissen auch, dass es immer noch einige Zweifel bezüglich Ihrer Kinder gibt.«
Jetzt schaute sie mich an. Ihre Augen brannten sich in meinen Schädel. »Dann gibt es nichts zu reden.«
»O doch.«
Ich holte meinen Stift heraus und legte ein leeres Blatt Papier auf den Tisch. »Ich dachte, Sie würden vielleicht gern einen Brief an Brendan, Ashley und Adam schreiben.«
105
Mary war auf einen Schlag wie ausgewechselt, genau wie ich es bei ihr schon früher gesehen hatte. Wieder blickte sie mich an. Augen und Mund waren sichtlich weicher. Aber auch eine Verletzbarkeit war in ihren Zügen lesbar. Wenn sie so war, fiel es mir schwer, für Mary Wagner nichts zu empfinden, ganz gleich, was sie getan hatte.
»Es ist mir nicht erlaubt, Ihre Handschellen entfernen zu lassen«, sagte ich. »Aber Sie können mir diktieren, was Sie gern schreiben würden. Ich schreibe es für Sie. Wort für Wort.«
»Ist das ein Trick?«, fragte sie und flehte mich praktisch an, dass es keiner sein möge. »Das ist doch irgendein Trick, oder?«
Ich musste meine Worte sorgfältig wählen.
»Kein Trick. Es ist eine Chance für Sie zu sagen, was immer Sie Ihren Kindern sagen wollen.«
»Wird die Polizei es lesen? Sagen Sie es mir. Ich will wissen, wenn es so ist.«
Ihre Reaktion faszinierte mich. Eine Mischung aus starken Emotionen und Kontrolle.
»Alle Gespräche hier drin werden aufgezeichnet«, erinnerte ich sie. »Sie müssen das auch nicht machen, wenn Sie nicht wollen. Es liegt ganz bei Ihnen. Ihre Wahl, Mary.«
»Sie sind in mein Haus gekommen.«
»Ja, stimmt.«
»Ich habe Sie gemocht.«
»Ich mag Sie auch, Mary.«
»Sind Sie auf meiner Seite?«
»Ja, ich bin auf Ihrer Seite.«
»Auf der
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