Ave Maria - Roman
Seite der Gerechtigkeit, richtig?«
»Das hoffe ich, Mary.«
Sie blickte im Raum umher. Entweder überlegte sie ihre Optionen, oder sie suchte nach den richtigen Worten. Ich wusste es nicht. Dann heftete sie die Augen auf das Blatt zwischen uns.
»Lieber Brendan«, flüsterte sie.
»Nur Brendan?«
»Ja. Bitte, lies das deinem Bruder und deiner Schwester vor. Du bist doch der große Junge in der Familie.«
Ich schrieb alles wörtlich auf. Ich schrieb fast so schnell, wie sie sprach.
»Mammi ist eine Weile weg von euch, aber es wird nicht lange sein. Das verspreche ich euch. Versprochen .
Wo immer ihr jetzt seid, sorgt man gut für euch, da bin ich sicher. Wenn ihr euch einsam fühlt oder weinen wollt, ist das auch okay. Weinen hilft, die Traurigkeit herauszulassen. Alle weinen manchmal, sogar Mammi, aber nur, weil ich euch so vermisse.«
Mary machte eine Pause. Sie schaute zufrieden drein, als hätte sie gerade etwas Schönes gesehen. Ihre Augen waren auf die gegenüberliegende Wand fixiert. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war herzzerreißend.
Sie fuhr fort. »Wenn wir alle wieder zusammen sind, machen wir ein Picknick, das mögt ihr doch so. Wir holen uns alles, was wir essen wollen, und fahren irgendwohin, wo es hübsch ist, und verbringen dort einen ganzen Tag. Vielleicht gehen wir auch schwimmen. Was immer ihr wollt, Schätzchen. Ich freue mich schon darauf.
Und wisst ihr was? Ihr habt einen Schutzengel, der euch
immer beschützt. Das bin ich. Ich gebe euch Gute-Nacht-Küsse in euren Träumen, wenn ihr nachts schlaft. Ihr müsst keine Angst haben, weil ich ganz dicht bei euch bin. Ihr seid hier bei mir.«
Mary hielt inne, schloss die Augen und seufzte laut.
»Ich liebe euch ganz, ganz doll. Mammi.«
Inzwischen lehnte sie sich mehr über den Tisch als zu Anfang. Sie verschlang den Brief mit den Augen - und sprach immer noch mit weicher Stimme zu mir. Ein Flüstern.
»Schreiben Sie drei X und drei O unten hin. Ein Kuss und eine Umarmung für jedes meiner Babys.«
106
Je mehr ich hörte, desto mehr bezweifelte ich, dass Mary Wagner diese Kinder einfach erfunden hatte. Und ich hatte ein ungutes Gefühl, was wohl aus ihnen geworden sein könnte.
Den Nachmittag verbrachte ich damit, die Kinder aufzuspüren. Der Uniform Crime Report kam mit einer langen Liste von Kindern zurück, die in den letzten Jahrzehnten Opfer von Mörderinnen geworden waren. Irgendwo hatte ich gehört oder gelesen, dass Ladendiebstahl und Kindestötung die einzigen beiden Verbrechen seien, worin amerikanische Frauen mit den Männern zahlenmäßig gleichziehen.
Wenn das zutraf, dann repräsentierte dieser dicke umfangreiche Bericht nur die Hälfte der Kindsmorde, die strafrechtlich verfolgt wurden.
Ich biss die Zähne zusammen und ließ die schreckliche Datenbase nochmal durchlaufen.
Diesmal suchte ich nur nach mehrfachen Morden. Als diese Liste zusammengestellt war, kämpfte ich mich hindurch.
Einige berühmte Namen sprangen mir sogleich ins Auge: Susan Smith, die ihre beiden Söhne 1994 ertränkt hatte. Andrea Yates, die alle ihre fünf Kinder tötete, nachdem sie jahrelang mit einer Psychose und tiefer Postpartum-Depression gekämpft hatte.
Die Liste nahm kein Ende. Keine dieser Verbrecherinnen konnte als Opfer ihres Falles betrachtet werden, aber die Dominanz schwerer psychischer Gesundheitsprobleme war offensichtlich.
Bei Smith und Yates lautete in beiden Fällen die Diagnose schwere Persönlichkeitsstörungen, die nur klinisch zu behandeln waren. Ich konnte mir leicht vorstellen, dass das auch auf Mary Wagner zutraf, aber eine verlässliche Diagnose würde mehr Zeit erfordern, als wir wohl hätten.
Doch diese Frage trat einige Stunden in den Hintergrund.
Ich klickte eine neue Seite an und fand leider genau, wonach ich gesucht hatte.
Ein Dreifachmord in Derby Line, Vermont, am 2. August 1983. Die drei Opfer waren Geschwister:
Beaulac, Brendan, 8
Beaulac, Ashley, 5
Constantine, Adam, 11 Monate.
Die Mörderin, die Mutter, war eine sechsundzwanzigjährige Frau mit dem Familiennamen Constantine.
Vorname: Mary.
Ich suchte nach einem Bericht über diese Morde in den örtlichen Medien.
Ich fand einen Artikel aus dem Jahr 1983 im Caledonian-Record in St. Johnsbury, Vermont.
Da war auch ein grobkörniges Schwarzweiß-Foto von Mary Constantine, wie sie bei der Gerichtsverhandlung auf der Anklagebank saß.
Ihr Gesicht war dünner und jünger, aber die distanzierte versteinerte Miene war unverkennbar. Es war der Blick,
Weitere Kostenlose Bücher