Ave Maria - Roman
damals nicht so ausgesehen. Mary war neunzehn Jahre bei uns. Sie konnte aus wenigem sehr viel machen. Unsere eigene Martha Stewart.« Er lachte.
»Sie war meine Freundin.«
Ich drehte mich um. Eine Frau in mittleren Jahren stand mit einer Schulter gegen die Wand gepresst uns gegenüber. Ihre Häftlingskleidung verriet, dass sie aus dem Gefängnis hierher in den Maßregelvollzug überstellt worden war. Allerdings fiel es mir schwer, mir vorzustellen, was sie verbrochen haben könnte, um hier zu landen.
»Hallo«, sagte ich freundlich.
Die Frau hob das Kinn und versuchte, an uns vorbei in Marys Zimmer zu schauen. Jetzt sah ich, dass sie am ganzen Hals dicke Brandnarben hatte. »Ist sie wieder da? Ist Mary hier? Ich muss sehen, ob Mary hier ist. Das ist wichtig. Das ist für mich sehr wichtig.«
»Nein, Lucy. Tut mir Leid. Sie ist nicht zurück«, sagte ihr Dr. Blaisdale.
Lucy wirkte am Boden zerstört. Sie drehte sich schnell um und ging fort, dabei ließ sie die Hand an der Wand entlangschleifen.
»Lucy ist eine unserer wenigen wirklichen Langzeitpatienten, so wie Mary. Es war schwer für sie, als Mary verschwunden war.«
»Ja, darüber hätte ich gern mit Ihnen gesprochen«, sagte ich. »Was ist an jenem Tag geschehen?«
Dr. Blaisdale nickte langsam und biss sich auf die Unterlippe.
»Warum tun wir das nicht in meinem Büro.«
111
Ich folgte Blaisdale durch die verschlossene Tür am Ende der Abteilung hinunter ins Parterre. Wir betraten sein
Büro. Es war sehr modern, mit Lautsprechern und pastellfarbenen Mini-Rollos. An einer Wand hingen eingerahmt Banjo Dan und die Midnite Plowboys. Diese Poster erweckten meine Aufmerksamkeit.
Ich setzte mich. Mir fiel auf, dass alles auf meiner Seite seines Schreibtisches mehrere Handbreit weg von der Kante entfernt stand, außerhalb meiner Reichweite.
Blaisdale schaute mich an und seufzte. Mir war klar, dass er alles, was mit Mary Constantine geschehen war, schönreden würde.
»Also gut, Dr. Cross. Jeder in der Abteilung kann sich das Privileg erwerben, einen Tag einen Ausflug als Freigänger zu machen. Das war früher für Häftlingspatienten verboten, aber wir fanden es therapeutisch gesehen wenig konstruktiv, Patienten so unterschiedlich zu behandeln. Infolgedessen hat Mary das Hospital mehrere Male verlassen. An jenem Tag war es wie immer.«
»Und was ist an jenem Tag geschehen?«, fragte ich.
»Es waren sechs Patienten und zwei Betreuer. Das ist unsere Standardprozedur. Die Gruppe ist an diesem Tag zum See gegangen. Leider hatte dort eine Patientin eine Art Rückfall.«
Eine Art Rückfall? Ich fragte mich, ob er die genauen Details kannte. Blaisdale schien sich seinen Verwaltungsjob so leicht wie möglich zu machen.
»Mitten in dem hysterischen Anfall der Patientin erklärte
Mary, sie müsse auf die Toilette. Das Toilettenhäuschen stand ganz in der Nähe. Daher ließen die Betreuer sie gehen. Das war ein Fehler, wie sich herausstellte. Niemand wusste damals, dass es in dem Häuschen an zwei Seiten Eingänge gab.«
»Mary hat es offensichtlich gewusst«, warf ich ein.
Dr. Blaisdale trommelte mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. »Wie auch immer - sie verschwand im nahe gelegenen Wald.«
Ich blickte ihn an und hörte zu. Ich bemühte mich, meine Kritik zu unterdrücken, aber es fiel mir schwer.
»Sie war eine Bilderbuchpatientin. All die Jahre. Deshalb waren auch alle völlig überrascht.«
»So war es auch, als sie ihre Kinder ermordet hat«, sagte ich.
Blaisdale musterte mich. Er war nicht sicher, ob ich ihn beleidigt hatte, was ich aber wirklich nicht beabsichtigt hatte.
»Die Polizei suchte nach ihr - eine der größten Suchaktionen, die ich je gesehen habe. Wir überließen ihnen die Arbeit. Selbstverständlich wollten wir Mary gern zurückhaben und sicher sein, dass es ihr gut ging. Aber wir wollten die Geschichte auch nicht an die große Glocke hängen. Sie war damals nicht -« Er brach ab.
»Was war sie damals nicht?«
»Nun, damals hielten wir sie nicht für gefährlich, höchstens suizidgefährdet.«
Ich sprach nicht aus, was ich dachte. Ganz Los Angeles hatte eine etwas unterschiedliche Meinung über Mary - nämlich, dass sie eine der schlimmsten geisteskranken Mörderbestien war, die je gelebt hatte.
»Hat sie irgendetwas zurückgelassen?«, fragte ich.
»Ja, hat sie in der Tat. Sie müssen ihre Tagebücher lesen. Sie hat fast jeden Tag geschrieben. Während ihres Aufenthalts hier hat sie etliche Dutzend
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