Ave Maria - Roman
Wald hinausgefahren. Später haben wir die Stelle gefunden - purer Zufall. Dort hat sie sie erschossen. Eins, zwei, drei - in den Hinterkopf.
Die Gerichtsmedizinerin meinte, sie hätte sie vielleicht für ein Nickerchen hingelegt. Meiner Meinung nach hat sie zuerst die älteren Kinder erschossen, weil das Baby nicht weglaufen konnte.«
Ich wartete geduldig, bis er weitersprach. Ich wusste, dass die inzwischen verstrichene Zeit es keineswegs leichter machte, sich zu erinnern und darüber zu sprechen.
»Sie hat jedes Kind sorgfältig in eine Decke gewickelt. Ich erinnere mich noch an die Armeedecken, die sie benutzt hat. Schrecklich. Dann hat sie sie anscheinend nach Hause
gebracht. Dort hat sie Ashleys Gesicht zerschnitten. Das ganze Gesicht und aus irgendeinem Grund nur beim Mädchen. Das werde ich nie vergessen. Ich würde gern, aber ich schaffe es nicht.«
»Haben Sie sie als Erster gefunden?«, fragte ich.
Er nickte. »Marys Boss hat angerufen und gesagt, dass er Mary seit Tagen nicht gesehen hätte. Damals hatte Mary kein Telefon, deshalb habe ich ihm gesagt, ich würde rüberfahren. Ich hielt es für einen reinen Höflichkeitsbesuch. Mary kam zur Tür, als sei nichts passiert, aber ich habe es sofort gerochen. Buchstäblich. Sie hatte alle in einen großen Koffer im Keller gelegt - im August - und sie einfach dort gelassen. Ich schätze, sie hat den Gestank ebenso wie alles andere verdrängt. Ich kann es immer noch nicht erklären. Auch nicht nach all den Jahren.«
»Manchmal gibt es keine Erklärung«, sagte ich.
»Sie hat keinerlei Widerstand geleistet. Wir haben sie ganz ruhig abgeführt.«
»Aber es war eine Riesenstory«, meinte Madeline.
»Das stimmt. Eine Woche lang war Derby Line ein wichtiger Punkt auf der Landkarte. Ich hoffe, dass das nie wieder passiert.«
»Hat einer von Ihnen Mary nochmal gesehen, nachdem sie eingeliefert wurde?«
Beide Lapierres schüttelten den Kopf. Jahrzehntelanges Eheleben hatte sie zu einer Einheit gemacht.
»Ich kenne niemanden, der sie je besucht hätte«, sagte Madeline. »Das ist nicht gerade etwas, woran man erinnert werden will, oder? Die Menschen hier möchten sich gern sicher fühlen. Es war nicht, dass man ihr den Rücken zugedreht hätte. Es war eher... ich weiß auch nicht. Als hätten wir Mary überhaupt nicht gekannt.«
110
Das Vermont State Hospital war ein weit ausladendes, hauptsächlich rotes Backsteingebäude. Von außern wirkte es eher unauffällig, abgesehen von der Größe. Man hatte mir gesagt, dass fast die Hälfte der Räume nicht genutzt würde. In der geschlossenen Abteilung für Frauen im dritten Stock saßen weibliche Straftäter im Maßregelvollzug ein, wie Mary Constantine, aber auch nicht straffällig gewordene Patientinnen. »Das System ist nicht perfekt«, erklärte mir der Direktor. Das lag an der Lage, in der eine geringe Bevölkerungsdichte herrschte, und an den schrumpfenden Budgets für die psychische Gesundheitsfürsorge.
Das war auch ein Grund, weshalb Mary fliehen konnte.
Dr. Rodney Blaisdale, der Direktor, führte mich kurz durch die Station. Alles war gepflegt, im Tagesraum hingen Vorhänge, die Betonwände waren frisch gestrichen. Auf den meisten niedrigen Tischen lagen Zeitungen und Magazine: Burlington Free Press, The Chronicle, American Woodworker.
Es war still - unglaublich still.
Ich war schon früher in geschlossenen Abteilungen gewesen. Üblicherweise herrschte dort ein ständiger Lärmpegel. Stimmengewirr. Bis jetzt hatte ich keine Ahnung gehabt, wie tröstlich dieses Stimmengewirr sein konnte.
Vermont State erinnerte mich an die Stille und die langsamen Bewegungen in einem Aquarium. Patienten schienen sich an diese Stille anzupassen. Sie sprachen kaum, nicht einmal mit sich selbst.
Der Fernseher lief leise. Einige Frauen schauten sich die Seifenopern mit Augen an, die von Haldol getrübt zu sein schienen.
Als Dr. Blaisdale mich herumführte, dachte ich mehrmals daran, wie lebendig hier ein Schrei wäre.
»Hier ist es«, sagte er vor einer der vielen geschlossenen Türen auf dem Hauptkorridor. Mir wurde bewusst, dass ich ihm gar nicht mehr zugehört hatte. Jetzt ging ich wieder auf ihn ein. »Das war Marys Zimmer.«
Ich schaute durch das kleine Fenster in der Stahltür, fand aber selbstverständlich keinerlei Hinweis, dass sie je hier gewesen war. Auf dem Bett lag eine kahle Matratze. Ansonsten gab es noch einen eingebauten Schreibtisch und eine Bank sowie ein Regal aus Edelstahl.
»Natürlich hat es
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