Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
anschließen sollte. Er blieb an der Tür stehen. Eine junge Frau, offensichtlich eine Mitarbeiterin der Schule, die Danit besuchte, führte das großgewachsene Mädchen am Arm. Danit ließ sich in den Empfangsraum dirigieren, unter die Polizeibeamten, die wie erstarrt wirkten. Sie machte kleine, tastende Schritte.
Ilana bat, das Besprechungszimmer zu räumen. Dann sah Avraham Avraham, wie sie den Vernehmungsraum betrat, in dem Hannah Sharabi wartete, sah sie mit der Mutter wieder herauskommen und diese zu dem Raum geleiten, in den man ihre Tochter gebracht hatte. Ilana blieb draußen und schloss die Tür hinter der Mutter. Durch die Tür und die Wände hörte er Hannah Sharabi zum ersten Mal in Tränen ausbrechen.
Eine halbe Stunde später führten Etti und die junge Frau Danit aus dem Revier. Wohin, wusste er nicht.
Erst nachts um elf fand Avraham Avraham Zeit, seinen Abschlussbericht zu schreiben, um eine Verlängerung der Untersuchungshaft beantragen zu können. Er hielt den Kugelschreiber fest umklammert, und wie immer waren seine Finger im Nu blau verschmiert. Außer Schärfstein und ihm war niemand mehr auf dem Revier. Ilana war gegen Abend nach Hause gefahren. Maalul auch.
Die ersten Sätze schrieben sich leicht. Er fasste die Umstände zusammen, die zur Aufnahme des Falles geführt hatten. Bald war er bei der Schilderung des Verhörs angelangt, das am Morgen begonnen hatte – und dann kam er nicht weiter. Er ging in Schärfsteins Zimmer und sagte: »Ich denke, ich werde doch noch ein wenig Zeit brauchen.«
»Vielleicht ist es am besten, wenn ich auch nach Hause gehe und morgen früh einen Blick darauf werfe?«, schlug Schärfstein vor.
Nichts sprach dagegen.
Die Nächte waren noch angenehm und nicht zu feucht. Die Lichter des Einkaufszentrums, der Stadtbücherei und des Museums brachten Leben in die Dunkelheit. Avraham Avraham rauchte eine letzte Zigarette. Ofers Haus war von hier aus nicht zu sehen, obwohl es ganz in der Nähe lag. Es verbarg sich hinter sandigen Freiflächen und zwischen anderen Wohnhäusern. An allen waren Fenster und Jalousien schon geschlossen. Am Morgen würden sie wieder geöffnet werden.
Er kehrte in sein Zimmer zurück.
In nüchternen Sätzen hätte er beschreiben sollen, wie Rafael Sharabi verfrüht nach Hause gekommen war und den Sohn im Zimmer seiner Schwester vorgefunden hatte. Hätte schildern müssen, wie der Vater die Beherrschung verloren, seinen Sohn von ihr heruntergezerrt, ihn geschlagen und gegen die Wand gestoßen hatte, wie Ofers Kopf gegen die Wand geknallt und der Junge leblos zu Boden gesunken war. Hätte schreiben sollen, dass der Vater wenige Stunden danach den Leichnam seines Sohnes zusammengestaucht und in einem großen Koffer verstaut hatte, den er gegen Morgen im unbeleuchteten Treppenhaus die Stufen hinabgezerrt und schließlich in den Kofferraum seines Wagens gewuchtet hatte. Dem Geständnis des Vaters zufolge hatte seine Frau sofort die Polizei verständigen wollen, doch er hatte es verboten. Hatte sie gezwungen, am nächsten Tag auf das Revier des Ayalon-Distrikts zu gehen und ihren Sohn als vermisst zu melden. Sie habe dies nicht tun wollen, habe aber Angst vor ihrem Mann gehabt. Der Vater hatte versucht, die Tat an seinem Sohn zu vertuschen, weil er Angst vor der zu erwartenden Strafe und Sorge um das Schicksal seiner Familie gehabt hatte. Avraham hätte beschreiben sollen, wie Rafael Sharabi den Koffer mit der Leiche seines Sohnes auf hoher See über Bord geworfen hatte, nachts, mehr als zwölf Stunden, nachdem der Frachter, auf dem er unterwegs war, den Hafen von Ashdod verlassen hatte. Weit entfernt von jeder Küste. Und dass ihn, als er wieder in Israel war, seine Frau angefleht hatte, zur Polizei zu gehen und zu erzählen, was passiert war, er das jedoch abgelehnt hatte. Wie sie dann entdeckt hatten, dass Ofers Rucksack noch in seinem Zimmer lag, weshalb der Vater einige Bücher hineingestopft und die Tasche im Süden von Tel Aviv in einen Container geworfen hatte. Avraham hätte auch schreiben müssen, dass die Suche nach Ofer, trotz aller zu erwartenden Kosten, auf hoher See fortgesetzt werden müsse, es sei denn, der Koffer mit der Leiche würde zuvor irgendwo an Land gespült werden.
Doch er brachte nichts zu Papier. Schließlich ließ er den Stift aus der Hand gleiten.
Die Ermittlungsakte lag aufgeschlagen vor ihm, und aus dem Wust der Dokumente starrten ihn die schwarzen Buchstaben von Seev Avni an. Unvermittelt griff er nach dem
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