Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
wollten dir gratulieren. Du weißt doch, dass heute dein Geburtstag ist, oder? Und dass du heute Abend zu uns kommst?«
Die Glockenblumen und Gerbera erwähnte sie ebenso wenig wie er, obgleich er sich für den Strauß hätte bedanken können. Sie reichte ihn an seinen Vater weiter, der ihm mit exakt den Worten gratulierte, die auf der Karte standen, als läse er vom Blatt ab: »Wir wünschen dir Gesundheit, Glück und weiterhin Erfolg auf deinem Lebensweg. Was immer du anpackst, es möge dir gelingen.«
Wusste seine Mutter, dass ihn niemand anrufen und beglückwünschen würde, weshalb sie sich die Mühe machte, dies gleich zweifach zu tun, einmal auf der Karte und einmal am Telefon? Oder dachte sie vielleicht, das Telefon stünde nicht still und Dutzende von Glückwunschkarten würden ihm ins Haus flattern, weshalb sie sicherstellen wollte, dass sie die Erste war?
Bevor er die Wohnung verließ, stellte Avraham Avraham den rosa-weiß-violetten Geburtstagsgruß trotz allem in eine Vase, die er im Küchenschrank fand und mit Wasser füllte, ohne jedoch das raschelnde Blumenpapier zu entfernen.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen machte es ihm nichts aus, am Freitagmorgen aufs Revier zu kommen. Andere Pläne hatte er nicht.
Auf dem Revier war nur wenig Betrieb wie jeden Freitag. David Esra, der Frühdienst hatte, wirkte gutgelaunt. Er telefonierte gerade mit jemandem, aber als er Avraham sah, nahm er den Hörer vom Mund und flüsterte ihm zu: »Bist du hier, um die Vermisstensache zu bearbeiten? Dann warte eine Sekunde.« Er schob ihm eine kurze Liste aller Anrufe zu, die im Zusammenhang mit dem Jungen seit dem gestrigen Abend eingegangen waren, einschließlich der Namen der Anrufer, deren Telefonnummern und in Stichworten die Informationen, die sie gegeben hatten.
»Ist das alles?«, fragte er. Esra nickte und telefonierte weiter.
Wegen der Anspannung und abgelenkt durch die Anwesenheit der Mutter und des Onkels in seinem Büro hatte er, bevor sie sich gemeinsam auf den Weg zu dem Haus in der Straße des Gewerkschaftsbundes gemacht hatten, gestern den Computer auszuschalten vergessen, der nun noch immer vor sich hin summte. Avraham Avraham setzte sich an seinen Schreibtisch und ging die Liste der Anrufer durch. Mit dem Kugelschreiber zeichnete er ein blaues Sternchen neben einige von ihnen. Danach öffnete er auf der Facebook-Seite der israelischen Polizei den Link zu den Vermisstenmeldungen und war erstaunt zu sehen, wie wenige Reaktionen auf die Vermisstenanzeige Ofers es gab. Und allesamt waren sie vollkommen wertlos: Erfolgswünsche an die Polizei, zwei Offerten, bei den Suchmaßnahmen zu helfen, und ein Kommentar, der den beklagenswerten Zustand der Jugend – im Allgemeinen – mit den Drogen erklärte, die an den Kiosken verkauft würden, und mit der Ohnmacht der Polizei diesbezüglich.
Er wusste nicht, warum er eigentlich aufs Revier gekommen war. Er hätte genauso gut zu Hause abwarten können, bis sich eine konkrete Spur auftat, und dann darum bitten, dass eine Streife losgeschickt würde, um die Sache zu überprüfen. Aber er wollte etwas tun. Je mehr Zeit seit dem Verschwinden des Jungen verstrich, desto geringer wurden die Aussichten, Ofer zu finden. Er hatte das Gefühl, die Initiative ergreifen zu müssen, Fehler zu korrigieren, in die Offensive zu gehen. Und dass in den nächsten Stunden eine Entscheidung fallen würde. Am Vortag hatte er sich selbst noch versichert, er werde ab sofort auf die Geschichte hören, die der Fall erzählte.
Er notierte einige Fragen, die er Hannah Sharabi stellen wollte. Danach rief er eine der Telefonnummern an. Aber dort meldete sich niemand. Erst bei der vierten Nummer, die er wählte, antwortete ein kleines Mädchen.
»Schalom, hier spricht Inspektor Avi Avraham von der Polizei. Deine Eltern haben bei uns eine Nachricht hinterlassen. Sind sie denn zu Hause?«
»Einen Moment, ich geb dir meine Mama«, sagte die Kleine, und dann wurde die kindliche Stimme von einer sonoren Männerstimme abgelöst.
Avraham Avraham stellte sich vor.
»Gut, dass Sie anrufen. Meine Frau und ich, wir haben den Vermissten gestern Abend gesehen.«
Der Mann behauptete, er und seine Frau hätten Ofer an einer Tankstelle an der Schnellstraße nach Ashdod erkannt. Sie hätten dort gehalten, um zu tanken und einen Becher Kaffee in dem Yellow-Schnellimbiss auf dem Tankstellengelände zu trinken. An einem der Tische draußen vor dem Laden habe ein Jugendlicher allein gesessen und
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