Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
dachte, dass sie sich schlafen legen würde.
»Ich komme morgen früh. Sollte irgendetwas heute Nacht passieren, rufen Sie mich an, zu jeder Uhrzeit. Sie haben doch meine Handynummer, oder?«
Die Tante begleitete ihn zur Tür und flüsterte, ihre Tochter und sie würden über Nacht hierbleiben.
Avraham Avraham setzte Liat Manzur in Neot Rachel ab und fuhr anstatt nach Hause ziellos durch die Gegend.
Einen Grund, aufs Revier zurückzukehren, gab es nicht. Zu seinem Versagen vom Vorabend hatte sich weiteres Unvermögen gesellt. Er hatte sich nicht wie derjenige verhalten, der eigentlich die Ermittlung leitete. Hatte mechanisch agiert, von Panik getrieben. Hatte nicht innegehalten, um nachzudenken. Und weder aufmerksam hingeschaut noch richtig zugehört. Was auch immer mit Ofer passieren würde und wo immer er sich befinden mochte, dies war eine Geschichte, die begonnen hatte, sich selbst zu erzählen. Und er hatte dieser Geschichte nicht gelauscht. Nicht genug, dass er nicht wusste, wie diese Geschichte enden würde, er wusste auch nicht, wie sie angefangen hatte. Und er hatte nicht die leiseste Ahnung, welche Personen darin vorkamen. Das war es, was er am morgigen Tag tun musste: auf die Geschichte hören. Er musste Ofer Sharabi kennenlernen und wenn möglich auch seine Mutter und seinen Vater, der sich auf einem Frachter unterwegs nach Triest befand, und die beiden Geschwister des Jungen, die er noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Wie am Vorabend, auf dem Nachhauseweg, flüsterte er sich zu: Langsamer, langsam.
Er fuhr die Sokolow entlang und wieder zurück, zweimal. Sondierte die Scharen von Jugendlichen, die die Straße bevölkerten, vor allem am Weizman-Platz und in der Nähe der Zameret-Gebäude. Donnerstagnacht, halb zwölf. Die Cafés Aroma und Kakao platzten aus allen Nähten, und vor dem Eingang zum Café Café standen die Wartenden Schlange. Die Straße, die tagsüber den Erwachsenen gehörte, den Ladenbesitzern und Kunden, war nachts fest in der Hand der Jugend. Er fuhr jetzt so langsam, dass der Motor beinahe abstarb. Auf einem großen Flachbildschirm vor dem Café liefen die Sportnachrichten.
In seiner Jugend hatte es in Cholon keine Cafés gegeben, bloß ein oder zwei Eisdielen, mehrere kleine, schlecht laufende Pizzerien, die aufmachten und schlossen und unter anderem Namen wieder aufmachten, und eine Filiale von Sami Bourekas, wo er in einem Sommer gejobbt hatte. Noch hatte er keinen Anhaltspunkt, ob die Cafés oder einer der Gäste, die darin saßen, Teil der Geschichte waren, der er lauschen musste.
Am Struma-Platz hielt er, um sich eine Portion Falafel zu kaufen. Den Wagen parkte er auf dem Bürgersteig. Die Schlange vor der Theke war lang, trotz der späten Stunde. Ein Grüppchen Jugendlicher drängte sich um einen jungen Mann, den er von den Sportseiten der Zeitungen zu kennen meinte. Wegen der vorgerückten Stunde und um nicht alles Bargeld auszugeben, das er noch im Portemonnaie hatte, nahm er nur eine halbe Portion und aß im Stehen, neben ein paar jungen Burschen, die an einen roten BMW gelehnt standen und sich mit protzigen Gesten unterhielten. Avraham Avraham versuchte, ihrem Gespräch zu folgen. Er war so viel älter als sie. Ach richtig, da Mitternacht bereits vorüber war, war er jetzt genau achtunddreißig. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal ausgegangen war und um diese Uhrzeit in einem Café oder einem Restaurant gesessen hatte? Er stieg in seinen Wagen und fuhr weiter. Bremste ab, als er jemanden auf dem Gehweg allein dahintrotten sah, hielt neben einem parkenden Fahrzeug, in dem ein Pärchen im Dunkeln saß.
All das erinnerte ihn an eine andere Zeit und weckte ein sonderbares Déjà-vu-Gefühl in ihm. Er war zugleich er selbst und jemand, den es schon nicht mehr gab. Zwei Stunden später stellte er den Wagen auf dem Parkplatz unter seinem Haus in der Yom Hakipurim ab. Er betrat die Wohnung, knipste das Licht an und warf einen Blick auf den schweigenden Fernseher. Dann ging er in die Küche und ließ sich ein Glas Wasser einlaufen. War das seine Art zu feiern? Der Gedanke belustigte ihn. Er brauchte lange, um einzuschlafen.
Eine halbe Stunde nach dem Schrillen an der Tür klingelte auch das Telefon. Avraham Avraham war bereits angezogen, er trug eine saubere Jeans und ein weit geschnittenes, senffarbenes Polohemd, eines der wenigen, in denen er sich wohlfühlte.
Seine Mutter fragte: »Bist du wach?« Als schliefe er für gewöhnlich um diese Zeit noch. »Wir
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