Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
rauchen zu dürfen.
Ilana rief erst um nach drei Uhr zurück. Sie klang kühl, ihr Ton war förmlich. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören, vielleicht aus einem laufenden Radio. Saß sie mit jemandem im Auto? Er ging auf den Balkon, um während des Gesprächs allein zu sein. Zündete sich eine Zigarette an und legte die Schachtel und das Feuerzeug auf den Sims des geöffneten Fensters. Das Feuerzeug fiel in den Hof. Er informierte Ilana über die Aufnahme der Ermittlungen, ließ den Besuch der Mutter auf dem Revier am Vorabend aber unerwähnt. Sie erwiderte, offenbar tue er, was zu diesem Zeitpunkt getan werden müsse, und sie sähe momentan keine Veranlassung, von der üblichen Verfahrensweise abzuweichen.
»Wenn ich es richtig verstehe, besteht hier keine besondere Dringlichkeit«, fügte sie noch hinzu.
»Was soll das heißen: keine besondere Dringlichkeit?«, wollte er fragen. »Immerhin wissen wir nicht, wo der Junge die Nacht verbracht hat.« Stattdessen fragte er: »Und was passiert morgen?« Er wusste nicht, ob sie die Anspannung in seiner Stimme wahrnahm.
»Wie meinst du das?«
Sie hatte nichts bemerkt.
»Morgen ist Freitag. Wenn ich eine breit angelegte Suchaktion organisieren will, muss ich mir genug Leute besorgen.«
»Das ergibt noch keinen Sinn, Avi«, erklärte sie. »Solange du keine konkrete Spur hast. Und ich schließe aus dem, was du mir bisher gesagt hast, dass du noch keine hast, richtig?«
Das hatte er ihr doch bereits gesagt, deshalb verstand er nicht, warum sie die Frage laut und derart betont in Anwesenheit desjenigen wiederholte, der neben ihr saß. »In dem Augenblick, in dem du einen Ermittlungsansatz hast, werden wir genug Leute zusammentrommeln, das dürfte kein Problem sein.«
»Irgendeine Chance, dass du heute noch vorbeischaust?«
»Eher nicht. Ich habe gerade Jerusalem verlassen und am Nachmittag noch mehrere Besprechungen im Distrikt. Aber wenn etwas Dringendes ist, ruf an. Ich möchte, dass du mich über den Stand der Ermittlung auf dem Laufenden hältst, heute Abend und auch am Wochenende, sobald es etwas Neues gibt. In Ordnung?«
Sie sprach nur wegen demjenigen oder denjenigen, die mit ihr im Auto fuhren, so mit ihm. Und er hatte den Eindruck, dass sie neben jemand Wichtigem saß. Vielleicht dem Distriktkommandanten oder dem stellvertretenden Polizeichef. Das Gespräch mit ihr war alles andere als hilfreich.
Gegen Abend kehrte Ruhe im Haus an der Straße des Gewerkschaftsbundes ein. Alle waren entlassen oder hatten ihre Aufgaben erledigt. Am Vorabend um diese Zeit hatte er nach dem Gespräch mit der Mutter das Revier verlassen und war zu Fuß nach Hause gegangen. Jetzt bat er Liat Manzur, ihn bei der Befragung der Nachbarn zu unterstützen. Sie arbeiteten sich von einer Wohnung zur nächsten durch, doch alle Gespräche, die sie führten, waren völlig wertlos. Niemand hatte etwas gehört, niemand wusste etwas, kaum jemand hatte mit Ofer mehr gesprochen als die üblichen höflichen Wortwechsel im Treppenhaus. Mit Ausnahme der Nachbarin aus dem ersten Stock, die ihn um Erlaubnis gebeten hatte, auf der Straße die Anschläge aufzuhängen. Sie sagte, sie »stehe der Familie nahe« und dass Ofer »ein Goldjunge« sei, und brach in Tränen aus. Ein Lehrer hatte Ofer Nachhilfestunden gegeben.
Bevor sie das Haus verließen, ging Avraham Avraham ein letztes Mal zur Wohnung der Sharabis. Die Tür war geschlossen, und er klopfte sachte. In den Sekunden, die verstrichen, bis die Tür geöffnet wurde, überlegte er, dass jedes Klopfen die Mutter um den Verstand bringen musste. Laut sagte er durch die geschlossene Tür: »Hier ist Inspektor Avi Avraham, könnten Sie noch einmal kurz aufmachen?«
Eine Frau von Mitte fünfzig öffnete ihm. Es war die Frau des Onkels, bereits im Nachthemd. Sie hatte das Kommando über die Wohnung übernommen. Die Mutter saß auf dem schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer und neben ihr ein junges Mädchen, das etwa so alt wie Ofer zu sein schien. Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihnen standen Tellerchen mit Knabbereien, eine offene Flasche Diät-Sprite und Becher mit Kaffeeresten. Wie in den sieben Tagen der Trauerwoche. Im Fernsehen lief Kanal 2.
Avraham Avraham blieb verlegen mitten im Wohnzimmer vor ihr stehen, zwischen Sofa und Fernseher.
»So, wir sind jetzt fertig hier«, sagt er. »Ich fahre zurück aufs Revier. Sie sollten ein bisschen schlafen.«
»Machen wir gleich«, antwortete die Mutter, doch ihre Augen fragten ihn, ob er wirklich
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