Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Befragung aufgedrängt und jetzt wieder. Zum vierten Mal insgesamt.«
Die Annahme, er würde Avraham hinterherjagen, war interessant. Seev sah die Dinge anders. Er erwiderte: »Sie erinnern sich sicher nicht, aber wir sind uns auch an dem Freitag, an dem ich bei der Polizei angerufen habe, im Treppenhaus begegnet. Das war rein zufällig, ich bin Ihnen nicht gefolgt. Und Sie haben mich überhaupt nicht bemerkt. Wie auch immer, ich würde nicht sagen, dass ich Sie verfolgt habe, aber was wollen Sie damit eigentlich andeuten?«
»Ich denke, Sie versuchen etwas anzudeuten. Sie möchten mir etwas über Ihr Verhältnis zu Ofer sagen, aber es fällt Ihnen schwer. Sie wollen, und Sie wollen auch wieder nicht. Vielleicht möchten Sie, dass ich Ihnen helfe.«
Auch im Nachhinein vermochte Seev nicht zu sagen, wie viel Zeit vom Beginn des Gesprächs bis zu dem Augenblick vergangen war, in dem der Tisch umstürzte und die Schachfiguren auf dem Boden zerbrachen.
Er sah sich um. Vor dem großen Knall hatte Avraham das Gespräch in eine Richtung gelenkt, die Seev abstieß, aber allem Anschein nach folgerichtig war. Er beantwortete die Fragen des Ermittlers, gleichzeitig aber flüchtete er sich vor ihnen, indem er versuchte, sich dieses armselige Büro auf dem Revier gut einzuprägen, in allen Einzelheiten, um es eines Tages in einem Buch beschreiben zu können. Vielleicht in einem Roman, in dessen Mittelpunkt ein Polizeiermittler stünde, wenn er denn irgendwann den Mut aufbrächte, einen solchen Roman zu schreiben. In Gedanken machte er sich Notizen zu den Zimmerwänden des winzigen Raums, die weiß und nackt waren und dennoch dunkel wirkten, vielleicht, weil sie schon lange nicht mehr gestrichen worden waren. Dieses Büro war mehr eine Zelle als ein Zimmer. An der Wand über dem Schreibtisch hingen drei gelbliche Bücherborde, und darauf lagen ohne erkennbare Ordnung Aktenordner gestapelt, drei Bücher, an deren Titel Seev sich hinterher nicht mehr erinnern konnte, und eine vergoldete Ehrenmedaille. Im ganzen Raum gab es kein Fenster. Einmal, als Avraham wieder das Zimmer verließ und ihn allein zurückließ, stand Seev von seinem Stuhl auf, um sich zu strecken, beugte sich vor und sah auf Avrahams Bildschirm das Foto einer europäischen Stadt, die er nicht erkannte, in der Morgendämmerung ganz in Blau getaucht. Aus einem alten Wohnhaus am unteren Bildrand drang ein warmer, honigfarbener Lichtschein durch die Gardine.
Die Briefe waren noch immer nicht zur Sprache gekommen, was jedoch nicht allein seine Schuld war. Er hatte Avraham gesagt, er habe ihm noch etwas zu erzählen, doch Avraham hatte sich darauf versteift, ihm immer weiter schmutzige Fragen über sein Verhältnis zu Ofer zu stellen. Möglicherweise hatte Seev das auch unterstützt. Es war ihm angenehmer, auf die unterschwelligen Andeutungen zu reagieren, als – ausgerechnet jetzt, in diesem Raum und unter diesen Umständen – die Briefe zu gestehen.
»Wenn Sie möchten, schalte ich das Tonbandgerät aus, und Sie erzählen nur mir, was zwischen Ihnen beiden gewesen ist. Wenn es nichts mit Ofers Verschwinden zu tun hat, verspreche ich, dass alles, was Sie sagen, hier in diesen vier Wänden bleibt.«
Es war beinahe demütigend.
»Sie müssen es nicht abstellen. Ich bin hergekommen, um zu reden. Und ich habe Ihnen schon bei unserem letzten Gespräch von dem Verhältnis zwischen Ofer und mir erzählt. Ich war vier Monate lang sein Nachhilfelehrer und denke, dass ich ihm – über den Englischunterricht hinaus – nahestand, dass ich für ihn eine Art Mentor war. Ich habe an ihm Seiten erkannt, die andere nicht gesehen haben, und habe ihm auf eine Art zugehört, wie andere ihm nicht zuhören konnten oder wollten.«
Avraham überraschte ihn erneut, als er fragte: »Denken Sie, Ofer hat Sie geliebt?«
»Ob er mich geliebt hat? Was für eine absonderliche Frage. Ofer hat gespürt, dass ich bereit war, ihm etwas zu geben, das andere ihm nicht gegeben haben. Ich weiß nicht, ob er mich geliebt hat.«
»Und haben Sie ihn geliebt?«
»Sie benutzen schon wieder diesen Ausdruck, der hier fehl am Platz ist. Ich liebe meinen Sohn, aber das ist nicht dasselbe. Ich denke, ich habe mich mit Ofer identifiziert und an ihm Eigenschaften gesehen, die ich von mir selbst kenne, weshalb ich sehr viel Empathie für ihn empfunden habe. Und große Bereitschaft, ihm zu helfen.«
»Aber Sie haben nie das Gefühl gehabt, dass er mehr von Ihnen wollte?«
»Nein. Aber vielleicht verstehe
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