Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Seev.
Avraham sah ihn an, als wüsste er nicht, wovon Seev sprach.
Das Krachen der zu Bruch gehenden Schachfiguren war erst viel später zu hören. Zunächst herrschte Stille.
Schließlich fragte Avraham: »Von welchen Briefen reden Sie?«
»Diese Briefe«, antwortete Seev und bückte sich. Er holte aus seiner Tasche das schwarze Heft mit den zusammengefalteten Seiten darin, von denen er die endgültige Fassung der drei Briefe abgeschrieben hatte, die er den Sharabis in den Briefkasten geworfen hatte. Er reichte sie Avraham.
Einige Tage später, als Seev klarwurde, was mit den Briefen geschehen war, kam ihm der Gedanke, dass Avraham nicht nur der vierte Leser war, sondern auch der letzte. Es war kaum zu erwarten, dass irgendjemand die Briefe irgendwann noch einmal würde lesen wollen. Ganz sicher nicht Michal und allem Anschein nach auch Seev selbst nicht. Dabei waren diese drei Briefe der Anfang für einen längeren Text gewesen, von dem er gehofft hatte, es würde sein Erstling werden. Und Avraham sollte für immer dessen letzter Leser bleiben.
Avraham las schnell. Konnte er seine Handschrift entziffern? Er legte den ersten Brief auf den Tisch, umgedreht, und ging zum zweiten über. Beim dritten Brief schenkte er offenbar jenen Zeilen viel Aufmerksamkeit, die Seev über alles liebte, jene Folge reflexiver Fragen, die sich darauf bezogen, was Rafael und Hannah Sharabi nach dem Lesen der Briefe getan haben mochten. Seev wusste den Wortlaut auswendig: Wo habt Ihr die beiden Briefe gelesen, die ich Euch geschickt habe? In meinem Zimmer? Im Wohnzimmer? Und was habt Ihr gedacht, als Ihr sie gelesen habt? Habt Ihr Euch gesagt, das bin nicht ich, das kann ich nicht sein, um Euch zu schützen vor dem, was dort steht? Habt Ihr versucht, Euch einzureden, jemand anders hätte sie in meinem Namen geschrieben, um Euch nicht mit meinem Schmerz auseinandersetzen zu müssen? Und was habt Ihr mit ihnen gemacht, nachdem Ihr sie gelesen habt? Habt Ihr sie vernichtet, damit Ihr die Worte, die Ihr nicht hören wollt, nicht noch einmal lesen müsst? Aber ich werde niemals aufhören zu schreiben.
Geduldig wartete er, bis Avraham mit dem Lesen des dritten Briefes fertig war, und sagte dann: »Hier und da habe ich noch ein paar Formulierungen geändert, aber im Grunde sind das die Briefe, die ich den Sharabis habe zukommen lassen.«
Avraham sah ihn an, und erneut vermochte Seev nicht zu deuten, was aus seinem Blick sprach. Er sah Grauen, aber vielleicht wollte er das auch nur sehen.
Avraham fragte leise: »Sie haben das hier in Ofers Namen geschrieben?«
»Ja.«
»Warum haben Sie das getan?«
Der Polizist flüsterte mehr, als dass er fragte, und zum ersten Mal während ihres Gesprächs hatte Seev das Gefühl, dass Avraham tatsächlich wissen wollte, was in ihm vorging. Er erwiderte: »Das ist eine lange Geschichte. Ich bin hier, um sie Ihnen zu erzählen.«
»Sie können gleich alles erzählen. Sagen Sie mir aber vorher noch, an wen Sie die Briefe verschickt haben. Auch an die Polizei?«
Wusste er es wirklich nicht, oder versuchte er nur erneut, Seevs Glaubwürdigkeit auf die Probe zu stellen? Unmöglich, dass er die Briefe zum ersten Mal sah. Plötzlich durchfuhr ihn ein Gedanke: Was, wenn die Briefe die Sharabis nicht erreicht hatten? Wenn jemand sie aus dem Kasten gezogen hatte, bevor Rafael und Hannah Sharabi Gelegenheit dazu gehabt hatten? In seinem Inneren unterdrückte er einen Schrei, den nur Michal hätte hören können. Wenn die Briefe nicht ihre Adressaten erreicht hatten und Avraham sie jetzt zum ersten Mal sah, wie voreilig war es dann gewesen, herzukommen und ein Geständnis abzulegen? Aber das ergab doch keinen Sinn. Ofers Eltern hatten die Briefe bestimmt einem anderen Ermittler aus dem Team übergeben, und dieser hatte versäumt, Avraham davon zu berichten, und die Briefe stattdessen gleich weggeworfen.
»Ich habe die Briefe an Ofers Eltern geschickt«, sagte Seev schließlich. »Oder genauer gesagt: Ich habe sie in ihren Briefkasten gesteckt.«
»Wann?«, fragte Avraham.
»Den ersten vor ungefähr zwei Wochen, den zweiten in derselben Woche und den dritten letzte Woche.«
Avraham nahm die Briefe und verließ das Büro. Diesmal kam er erst nach geraumer Zeit zurück.
Als er den Raum wieder betrat, bat er Seev, ihn in ein anderes Zimmer zu begleiten, das wie ein Verhörraum auf ihn wirkte. Dort ließ er ihn abermals allein. Zuvor jedoch bat er ihn um sein Mobiltelefon.
Seev musste lange
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