Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
ich auch nicht, was Sie meinen.«
»Dass er wollte, dass Sie sein bester Freund werden oder sein Vater, dass Sie ihn adoptieren, ich habe keine Ahnung. Denn die Aussagen, die wir im Verlauf der Ermittlungen gesammelt haben, deuten darauf hin, dass Ofer sehr an Ihnen hing und Sie vielleicht sogar geliebt hat – verzeihen Sie, dass ich den Begriff ›lieben‹ verwende, obwohl er Ihnen nicht gefällt.«
Seev sah Avraham an und war zum ersten Mal nicht davon überzeugt, dass er in der Lage war, dessen Gedanken zu lesen. Er wusste nicht, ob das, was Avraham soeben gesagt hatte, zutraf, ob die Polizeibeamten während der Zeugenbefragungen tatsächlich etwas in der Richtung zu hören bekommen hatten. Zweifellos war das möglich. Seev fragte sich, mit wem die Polizisten gesprochen haben mochten. Sicherlich mit den Eltern, aber sollte Ofer auch Freunden von dem Verhältnis zu ihm erzählt haben?
»Der Begriff gefällt mir schon, ich denke nur, dass Sie ihn nicht richtig verwenden«, erklärte er.
»Und was haben Sie selbst dazu zu sagen?«
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll. Ich bin sicher, Ofer wusste die Art und Weise zu schätzen, wie ich ihm zugehört und ihn gesehen habe. Aber ich denke nicht, dass er mich geliebt hat.«
»Sagen Sie, Herr Avni, warum hat Ofer wirklich mit dem Nachhilfeunterricht aufgehört?«
»Es war nicht seine Entscheidung, das habe ich Ihnen schon beim letzten Mal erklärt. Seine Eltern haben mir mitgeteilt, er benötige keinen Nachhilfeunterricht in Englisch mehr, und ich glaube, dass nicht nur finanzielle Gründe eine Rolle spielten, denn ich wäre bereit gewesen, ihm auch unentgeltlich Unterricht zu erteilen. Vielleicht haben sie die Beziehung nicht gern gesehen, die sich zwischen uns entwickelt hatte.«
»Richtig, das hatten Sie mir letztes Mal gesagt. Aber ganz so war es nicht, wie Sie wissen. Ich habe mit den Eltern gesprochen, und die haben mir ausdrücklich gesagt, der Unterricht sei auf Ofers Wunsch beendet worden. Er wollte nicht, dass Sie weiterhin zu ihm nach Hause kämen.«
Seev dachte an die letzte Stunde.
Eine ganz normale Stunde, in Ofers Zimmer, Vorbereitung auf eine Grammatikprüfung, in der es um den Gebrauch des present perfect gehen sollte. Ofer hatte nicht gesagt, dass es die letzte Stunde sein würde. Zu Beginn hatte er Seev die Box mit den Hitchcock-Filmen zurückgegeben, und Seev hatte versucht herauszufinden, ob der Junge sie alle angeschaut hatte und wie sie ihm gefallen hatten. Doch es war ihm nicht gelungen, ein Gespräch darüber in Gang zu bringen. Hannah Sharabi hatte ihm einen Becher mit kochend heißem Tee und Dattelplätzchen gebracht. Bevor die Stunde beendet war, hatte es angefangen zu regnen, dicke Tropfen waren die Fensterscheibe hinabgelaufen. Auf dem Weg nach draußen hatte Hannah Sharabi ihm noch einen Krapfen angeboten. Es war der dritte oder vierte Tag des Chanukka-Festes gewesen. Seev erinnerte sich, dass er am Abend gedacht hatte, wie wunderbar es gewesen war, den Regen aus einem unvertrauten Blickwinkel zu sehen, durch das Fenster anderer Leute. Zwei Tage später hatte Hannah bei ihnen geklopft, hatte sich entschuldigt und mitgeteilt, Ofer würde von jetzt an Nachhilfeunterricht in Mathematik anstatt in Englisch nehmen.
Seev wusste nicht einmal, wie Ofer bei der Prüfung abgeschnitten hatte.
»Es kann sein, dass es den Eltern weniger unangenehm ist, die Dinge so darzustellen«, erklärte er Avraham. »Ich hingegen höre zum ersten Mal, dass Ofer mit den Nachhilfestunden aufhören wollte.«
»Vielleicht wollte er sie beenden, weil er das Gefühl hatte, Sie zu sehr zu lieben?«
»Was haben Sie nur mit diesem Ausdruck? Ich sage Ihnen, dass es nicht stimmt. Nicht Ofer wollte unsere Nachhilfestunden beenden.«
»Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Genau das haben seine Eltern in der Vernehmung ausgesagt.«
»Dann irren sie, oder sie lügen«, stieß Seev hervor.
Avraham schwieg. Vielleicht wartete er darauf, dass Seev noch etwas sagte. Schließlich meinte er: »Wissen Sie was? Ich denke, Sie haben recht. Ich glaube den Sharabis auch nicht. Und ich bin sicher, dass Ofer, nachdem seine Eltern den Unterricht von sich aus für beendet erklärt hatten, versucht hat, sich weiterhin mit Ihnen zu treffen, nicht wahr?«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen: Aufgrund der Aussagen, die wir im bisherigen Verlauf der Ermittlungen protokolliert haben, bin ich mir sicher, dass Ofer sich darum bemüht hat, Sie auch
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