Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
wurde ein Polizeiverhör zuweilen als Schachspiel beschrieben, und dementsprechend war er seinem Gegner in jedem Moment um zwei oder drei Züge voraus. Bis der Tisch umstürzte, sie beide unter sich begrub, und die Figuren zerbrachen.
Er nannte dem Polizeibeamten, der hinter dem Tresen im Eingangsbereich stand, seinen Namen. Avraham erwartete ihn schon, und Seev kannte den Weg. Er ging über den grauen Flur und blieb vor der dritten Tür links stehen. Als er die Klinke drückte und sich die Tür zu dem mittlerweile vertrauten Büro öffnete, verschwand sein Gefühl von Beklemmung, doch Sekunden zuvor, als er vor der geschlossenen Tür gestanden und darauf gewartet hatte, eintreten zu dürfen, hatte ihn ein sonderbares Gefühl beschlichen, als würde er nun vor seinen Schöpfer treten.
Aber es war nur Avraham Avraham.
Der Inspektor saß eingezwängt zwischen Schreibtisch und Wand. In Uniform. Er bat Seev, Platz zu nehmen, und folgte seinen Bewegungen, als er die Tasche abstellte, den Stuhl heranzog und sich niederließ. Seev verspürte eine Art freudige Erregung. Und Erleichterung. Avraham bat ihn erneut um seinen Personalausweis und schrieb mit seinem blauen Kugelschreiber einige Worte auf ein Blatt Papier.
Seev fragte: »Wie geht es Ihnen?«, erhielt jedoch keine Antwort.
Auf der einen Seite des Tisches, dicht an der Wand, stand ein silberfarbenes Aufnahmegerät, das jedoch nicht in Betrieb war. Er wartete darauf, dass Avraham das Gerät einschalten oder ihr Gespräch offiziell eröffnen würde.
Aber Avraham ließ sich Zeit. Er schrieb und schrieb, und erst nach ein oder zwei Minuten legte er den Stift beiseite, hob den Blick von dem Blatt und sagte: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchten Sie mit mir über eine andere Angelegenheit sprechen, aber ich muss Ihnen auch noch einige Fragen im Zusammenhang mit dem Fall des vermissten Ofer Sharabi stellen.«
»Mein Anliegen hängt auch damit zusammen«, erklärte Seev und schwieg dann für einen Augenblick. »Wollen Sie das Aufnahmegerät einschalten, oder fangen wir noch nicht an?«, fragte er schließlich.
Er würde nicht zweimal vorbringen können, was er zu sagen hatte.
»Meinen Sie, ich sollte es einschalten?«, fragte Avraham. Er wirkte schroffer und distanzierter als bei ihrer vorherigen Begegnung, als spielte er mit Seev ein leicht durchschaubares und kindisches Verhörspielchen. Bei ihrem letzten Gespräch hatte es keine Scheuklappen und keine Maskerade zwischen ihnen gegeben. Zumindest ansatzweise hatten sie ein richtiges Gespräch geführt, hatte es sich nicht bloß um eine Zeugenvernehmung durch einen Polizeibeamten gehandelt, und Seev hatte gehofft, dass es auch diesmal so sein würde. Er wusste, dass er sofort und ohne Umschweife alles erzählen musste, so wie er es geplant hatte, um es für sie beide und ihre Unterhaltung leichter zu machen. Also antwortete er: »Ich weiß nicht, ob Sie es einschalten müssen, also rechtlich gesehen.«
Avraham schaltete das Aufnahmegerät nicht ein, sondern sagte bloß: »Ich höre.«
Seev begann: »Also, es geht um Folgendes: Vor zwei Wochen gab es einen anonymen Anruf bei der Polizei, in dem jemand behauptet hat, man müsse Ofer im Dünenabschnitt H300 suchen. Ich möchte sagen, dass ich derjenige war, der angerufen hat. Aus einer Telefonzelle in Rishon Letzion.«
Das war der Plan. Mit dem Anruf zu beginnen und dann zu den Briefen zu kommen, genau in der chronologischen Reihenfolge, in der sich die Dinge ereignet hatten, damit Avraham die Entwicklung nachvollziehen konnte. Das Telefonat konnte er zudem eingestehen, ohne sich selbst zu belügen.
Seev war zu erregt, um Avrahams Blick wirklich deuten zu können, dennoch registrierte er das Erstaunen in dessen Augen. Der Beamte hatte nicht den geringsten Verdacht gegen ihn gehegt. Avraham streckte die Hand nach dem Aufnahmegerät aus und zog sie wieder zurück, als bedauerte er seine vorschnelle Reaktion. »Fahren Sie fort«, sagte er, den blauen Kugelschreiber wieder in der Hand.
»Ich war auch überrascht, als das passiert ist«, erklärte Seev. »Und viel mehr habe ich zu diesem Sachverhalt nicht zu sagen. Das war der Anfang. Ich hatte nicht die Absicht gehabt, der Polizei einen Hinweis auf eine Leiche zu geben. Ich wollte sagen, ich hätte Ofer gesehen und dass man dort nach ihm suchen sollte. Offenbar wegen der Anspannung habe ich dann etwas anderes gesagt. Und hauptsächlich deswegen möchte ich mich entschuldigen.«
Avraham fragte: »Wann haben
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