Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Sie ihn dort gesehen? An welchem Tag?«
Seev, enttäuscht von der Frage, präzisierte, was er meinte, klar und deutlich erklärt zu haben: »Ich habe ihn nicht gesehen, das versuche ich Ihnen doch zu erzählen. Ich habe alles erfunden, was ich bei dem Anruf gesagt habe. Und dafür möchte ich mich entschuldigen.«
Es ist am allerwichtigsten, dass du dich entschuldigst, das hatte Michal ihm eingeschärft.
Avraham verstand noch immer nicht. »Wenn Sie ihn nicht gesehen haben, warum haben Sie dann angerufen?«
»Ich weiß es nicht. Ich wollte, ich hätte eine Erklärung. Deshalb will ich ja mit Ihnen sprechen, um Ihnen darzulegen, warum ich denke, dass ich es getan habe. Aber vor allem ist es mir wichtig, dass Sie wissen: Ich habe Ofer nicht gesehen, und die Information war frei erfunden. Und besonders wichtig ist es mir, Ihnen das persönlich zu sagen, nicht nur, weil Sie die Ermittlungen leiten, sondern auch, weil ich hier zwei Stunden bei Ihnen gesessen und dies verschwiegen habe, obwohl sich ein Vertrauen zwischen uns entwickelt hatte und wir ein offenes Gespräch geführt haben. Ich hätte es Ihnen schon beim letzten Mal sagen müssen und damit nicht warten dürfen. Vielleicht kommt es jetzt zu spät, und wenn ja, dann entschuldige ich mich erneut, deshalb bin ich hergekommen, aber die reine Wahrheit ist, dass ich die Ermittlungen nicht behindern wollte. Mir ist es genauso wichtig wie Ihnen, dass Sie Ofer finden.«
Dann war er allein im Zimmer zurückgeblieben. Und das nicht zum letzten Mal.
Doch genau genommen war er nicht ganz allein, und zwar dank Michal. Auch in den darauffolgenden schweren Stunden, als die Vernehmung gänzlich seiner Kontrolle entglitt und höchst unangenehm wurde, spürte er sie an seiner Seite. Sie war ihm nicht böse, dass er ihr nichts von dem Telefonat erzählt hatte. Verstand, dass er ihr nicht noch mehr Leid hatte zufügen wollen. Und sie ertrug still seine Wut darauf, dass er sich in diesem Zimmer befand. Schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Für mich. Für uns.«
Er hatte vorgehabt, Avraham bei dessen Rückkehr ins Zimmer von den Briefen zu erzählen, doch als der Polizeibeamte wiederauftauchte, ohne zu begründen, warum er den Raum verlassen hatte, schaltete er sogleich das Aufnahmegerät ein und sagte in amtlichem Tonfall: »Vernehmung von Seev Avni, 22. Mai, morgens, acht Uhr zweiundzwanzig. Ich bitte Sie zu wiederholen, was Sie vorhin gesagt haben.«
Seev war unschlüssig, ob er zu dem silberfarbenen Metallkasten oder zu dem vor ihm sitzenden Ermittler sprechen sollte. »Ich habe gesagt, dass ich mich für den anonymen Anruf bei der Polizei entschuldigen möchte.«
»Ein Anruf in welcher Sache?«
»In der Sache Ofer Sharabi.«
»In dem Sie was gesagt haben?«
»In dem ich gesagt habe, die Polizei solle Ofer im Dünenabschnitt H300 suchen.«
»Das entspricht nicht dem Wortlaut des Anrufs, der bei der Polizei einging.«
»Ich habe gesagt, dass die Polizei Ofers Leiche suchen soll.«
»Wie sind Sie an die Information über den Fundort von Ofers Leiche gelangt?«
Er war auf Fangfragen dieser Art vorbereitet, dennoch erschrak er und bedauerte, dass Avraham ihm derartige stellte. Aus seiner Sicht war das nicht das Ziel des Gesprächs. Er antwortete: »Ich hatte keinerlei Informationen. Ich habe alles erfunden. Eigentlich hatte ich vor, etwas anderes zu sagen.«
»Was hatten Sie vor zu sagen?«, fragte Avraham.
»Dass ich Ofer gesehen habe, aber auch das stimmt nicht. Es war ein Fehler, für den ich die Verantwortung übernehme und mich entschuldige.«
»An welchem Tag haben Sie den Anruf getätigt?«
»Am Freitag vor zweieinhalb Wochen.«
»Erinnern Sie sich noch an das genaue Datum?«
»Nein.«
»Am Freitag, dem 6. Mai?«
»Offensichtlich.«
»Um welche Uhrzeit?«
»Ich erinnere mich nicht. Abends. Zwischen neun und zehn.«
»Und von wo aus haben Sie angerufen?«
»Von einem öffentlichen Fernsprecher in Rishon Letzion, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Den Namen der Straße weiß ich nicht mehr. Im Stadtzentrum.«
»Ihren Worten zufolge wussten Sie, dass Sie der Polizei falsche Angaben machten. Erklären Sie mir, weshalb Sie angerufen haben.«
Das waren die aus Seevs Sicht wichtigen Fragen. Fragen, die ein wirkliches Gespräch in Gang bringen konnten. Er hatte Avraham nicht nur deshalb treffen wollen, weil Michal der Meinung gewesen war, genau das müsste er tun. Er hatte vielmehr versucht, eine eigene Rechtfertigung für seinen Gang
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