Axis
diesmal: »Isaac!«
Auf den Jungen kam es an, nicht auf den törichten Avram Dvali.
»Isaac, komm raus!«
Die Trümmer schwankten und ächzten.
Dvali begriff sofort, was der Junge ihm mitteilte. Es ging wenig über das hinaus, was er sich seit Langem vorgestellt hatte. Isaac war zu einer Verbindung mit den Hypothetischen geworden, jedoch mit einem verblüffenden Unterschied: Er hatte die Erinnerungen Anna Rebkas erworben, bevor sie gestorben war. Sie lebte in ihm. So wie das marsianische Kind Esh.
»Anna?«, flüsterte er.
Als könnte er sie in dem Jungen beschwören wie einen Geist. Aber tatsächlich: Die Augen des Jungen veränderten sich auf undefinierbare Weise, seine Mundwinkel zogen sich nach unten, und das war genau die Art, wie Anna ihn in letzter Zeit oft angesehen hatte.
Dann sagte Dvali etwas, was er nicht zu sagen beabsichtigt hatte, obwohl die Worte so logisch und unvermeidlich waren wie der letzte Schritt auf einer langen Reise: »Nimm mich mit.«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Nimm mich mit, Isaac. Wo immer du hingehst, nimm mich mit.«
Die Balken knirschten, als trügen sie das Gewicht der ganzen Welt.
»Nein«, erwiderte der Junge ruhig.
Und das war zum Verzweifeln. Wo er doch so nahe dran war, so nahe dran. Zum Verzweifeln auch, weil die Stimme, die sich ihm da verweigerte, wie Annas Stimme klang.
34
Lise und Turk zogen Sulean Moi von dem windgepeitschten Trümmerfeld weg.
Als sie in sicherer Entfernung waren, beugte sich Turk über die Marsianerin. »Wo sind die anderen?«
Für einen Moment schien Sulean nicht imstande zu antworten. Sie öffnete den Mund, machte ihn wieder zu. Sie stand unter Schock. »Tot«, brachte sie schließlich heraus. »Diane ist tot. Anna ist tot.«
»Was ist mit Isaac?«
»Er lebt. Dvali ist bei ihm. Warum kommen sie nicht heraus? Es ist nicht sicher.«
Turk erhob sich, um die kleine Öffnung im Schutt in Augenschein zu nehmen.
Lise hielt ihn am Arm fest. Sie wollte nicht, dass er dort hineinging. Nicht in diese schwankende Höhle.
Er riss sich los. Und dieses Gefühl – wie sich sein Arm ihrem Griff entzog – verließ sie nie. Wie die schönsten und die schlimmsten Erinnerungen wurde es unauslöschlich. Es verfolgte sie für den Rest ihres Lebens.
Sie konnte ihn nicht aufhalten. Und sie konnte sich nicht überwinden, ihm zu folgen.
Es war dunkel, und fast wäre Turk über den leblosen Körper Diane Duprees gestolpert, bevor er Isaac und Dvali bemerkte, die sich vor einer Wand aus zerbrochenem Stein gegenüberstanden. Dvali streckte die Hand nach dem Jungen aus, Isaac wich zurück, wollte sich nicht berühren lassen, und Turk konnte Dvalis flehende Stimme über dem Tosen des Windes hören, dieses Windes, der aus dem Nichts gekommen war und sich offenbar vorgenommen hatte, den ganzen Kontinent aus den Angeln zu heben.
Turk hatte heute schon so viel Seltsames gesehen, dass es für ein ganzes Leben reichte, doch nun registrierte er noch ein weiteres Wunder: Die Haut des Jungen war milchig weiß geworden und leuchtete schwach, sein Gesicht ein Kerzenglanz rund um die goldenen Augen, sein Körper eine Art Kürbislaterne, deren Rippen man unter dem zerrissenen, verdreckten Hemd sehen konnte.
»Isaac«, rief er. »Es ist alles in Ordnung. Du kannst jetzt raus.«
Isaac sah ihn dankbar an.
Dann machte der Wind ein Geräusch wie die Hupe eines monströsen Schiffes, das den Hafen verlässt, und die Decke stürzte ein.
Sulean Moi hielt Lise Adams fest in den Armen, als das Gebäude zusammensackte. Eine Lawine aus Betonstaub, aus sich auflösendem Putz wälzte sich über sie hinweg. »Bleiben Sie unten«, sagte Sulean. »Sie können ja doch nichts tun.«
Lise wehrte sich noch ein bisschen, dann wich alle Kraft aus ihr, und Sulean drückte sie an die Schulter, wiegte sie sanft hin und her. Wie ein Fanal erschien der Marsianerin dieser letzte Einsturz. Niemand konnte ihn überlebt haben.
Doch sie wurde eines Besseren belehrt.
Die Augenrosen nahmen wieder ihre feierliche Habachtstellung ein.
»Sehen Sie nur, Lise.«
Die Bäume der Hypothetischen hatten wieder zu graben begonnen, geduldig, unverdrossen.
SECHSTER TEIL
DIE ORDNUNG DER ZEIT
35
Als alles vorbei war – als von dem riesigen glitzernden Wald nichts geblieben war als einige kümmerliche, sich rasch zersetzende Stängel, als der hoch aufragende Torbogen seine Arbeit beendet und zu Staub zerfallen war, als das Wüstenbecken der Rub
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