Axis
war ein mit Pflaster befestigter Baumwolltupfer: Offenbar hatte Mrs. Rebka, die Ärztin der Gemeinschaft, ihr bereits eine Blutprobe entnommen. Das war bei allen Neuankömmlingen üblich. Isaac fragte sich, ob Mrs. Rebka wohl Mühe gehabt hatte, in diesem schmalen, sehnigen Arm eine Vene zu finden. Er fragte sich auch, welchem Zweck die Blutprobe diente und ob Mrs. Rebka das gefunden hatte, was sie suchte.
Während des Essens wurde der Neuen keine spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Sie nahm am Gespräch teil, doch dieses blieb an der Oberfläche, als wollte niemand irgendwelche Geheimnisse preisgeben, bevor die Fremde nicht vollständig anerkannt, aufgenommen und ihr Anliegen verstanden war. Erst als das Geschirr abgeräumt war und mehrere Kannen Kaffee auf dem langen Tisch standen, machte Dr. Dvali Isaac mit ihr bekannt.
»Isaac«, sagte er, »dies ist Sulean Moi – sie kommt von weit her, um dich kennenzulernen.«
Der Junge starrte verlegen auf die Tischplatte. Von weit her? Was hatte das zu bedeuten? Und – um ihn kennenzulernen?
»Hallo, Isaac«, sagte die Frau. Ihre Stimme war nicht das raue Krächzen, das er erwartet hatte. Nein, es war eine durchaus angenehme, nur leicht kratzige Stimme… und sie war, ohne dass er dies näher bestimmen konnte, irgendwie vertraut.
»Hallo«, erwiderte er, noch immer ihren Blick meidend.
»Bitte nenne mich Sulean.«
Er nickte vorsichtig.
»Ich hoffe, wir werden Freunde sein«, sagte Sulean.
Natürlich erzählte er ihr nicht gleich von seiner neu entdeckten Fähigkeit, die Punkte des Kompasses mit geschlossenen Augen zu unterscheiden. Davon hatte er noch niemandem erzählt, nicht einmal dem strengen Dr. Dvali oder der verständnisvolleren Mrs. Rebka. Er hatte Angst vor der Untersuchung, die darauf folgen würde.
Sulean Moi, die jetzt auf dem Gelände wohnte, machte es sich zur Gewohnheit, ihn jeden Vormittag nach dem Unterricht und vor dem Mittagessen zu besuchen. Zuerst fürchtete Isaac diese Besuche. Er war schüchtern, und Sulean Mois hohes Alter und ihre Gebrechlichkeit waren ihm einigermaßen unheimlich. Doch sie war unbeirrbar freundlich. Sie respektierte sein Schweigen, und die Fragen, die sie stellte, waren selten unangenehm oder aufdringlich.
»Gefällt dir dein Zimmer?«, fragte sie eines Tages.
Weil er am liebsten allein war, hatte man ihm ein eigenes Zimmer gegeben, eine kleine Kammer im zweiten Stock des Ostflügels des größten Gebäudes. Es hatte ein Fenster mit Blick auf die Wüste, und vor dieses Fenster hatte Isaac Schreibtisch und Stuhl gestellt, während das Bett an der hinteren Wand stand. Nachts ließ er die Fensterläden gern offen, damit der Wind seine Bettdecke, seine Haut berühren konnte. Er mochte den Geruch der Wüste.
»Ich bin in einer Wüste aufgewachsen«, erzählte Sulean. Das durch das Fenster fallende Sonnenlicht ließ ihre linke Seite erstrahlen, den Arm und die Pergamentstruktur von Wange und Ohr. Ihre Stimme war fast nur ein Flüstern.
»In dieser Wüste?«
»Nein, nicht in dieser. Aber in einer, die nicht viel anders war.«
»Warum bist du von da weggegangen?«
Sie lächelte. »Ich musste weggehen. Oder jedenfalls habe ich das gedacht.«
»Und dann bist du hierhergekommen?«
»Letzten Endes, ja.«
Weil er sie mochte und weil er sich stets bewusst war, was zwischen ihnen unausgesprochen blieb, sagte Isaac: »Ich habe nichts, was ich dir geben kann.«
»Ich erwarte nichts.«
»Die anderen tun es.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Dr. Dvali und die anderen. Früher haben sie mir immer viele Fragen gestellt – wie ich mich fühle, was für Gedanken ich habe und was bestimmte Sachen in den Büchern bedeuten. Aber meine Antworten haben ihnen nicht gefallen.« Schließlich hatten sie aufgehört, ihm Fragen zu stellen, so wie sie auch aufgehört hatten, ihn Bluttests, psychologischen Tests und Wahrnehmungstests zu unterziehen.
»Ich bin zufrieden mit dir, so wie du bist«, sagte die alte Frau.
Er wollte ihr glauben. Aber sie war neu hier, sie war mit der Gleichmütigkeit eines sich auf einem Fels sonnenden Insekts durch die Wüste gewandert, ihre Absichten waren unklar, und Isaac zögerte noch immer, ihr seine beunruhigendsten Geheimnisse anzuvertrauen.
Alle Erwachsenen waren seine Lehrer, wenn auch einige geduldiger und zugewandter waren als andere. Mrs. Rebka lehrte ihn die Grundzüge der Biologie, Ms. Fischer die Geografie der Erde und der Neuen Welt und Mr. Nowotny erzählte ihm vom Himmel, den Sternen und dem
Weitere Kostenlose Bücher