Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Axis

Axis

Titel: Axis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
sei ein Sturm über die hohen Pässe der Wasserscheide gezogen – das kam manchmal vor, doch dieses Leuchten hatte nichts mit Blitzen zu tun, es war diffus und dauerhaft. »Ist das normal?«
    »Nein«, erwiderte Isaac.
    Nein. Das war überhaupt nicht normal.
    »Dann sollten wir vielleicht zurückgehen.«
    Isaac nickte unbehaglich. Er hatte keine Angst vor dem heraufziehenden Sturm – falls es denn einer war –, aber dieser trug eine Bedeutung mit sich, die er Sulean nicht erklären konnte, eine Beziehung zu dem, was still unter der Rub al-Khali lebte, dem »Leeren Viertel« im äußersten Westen, und worauf sein privater Kompass ausgerichtet war. Rasch gingen sie zum Gebäude zurück, wenn auch nicht ganz im Laufschritt, weil Isaac sich nicht sicher war, ob jemand, der so zerbrechlich wirkte wie Sulean, überhaupt rennen konnte. Währenddessen erschienen immer neue Wellen des seltsamen, wolkigen Lichts, das die Bergspitzen im Osten aus dem Dunkeln treten und dann wieder darin verschwinden ließ, und als sie das Tor erreichten, war der Meteorschauer von diesem neuen Phänomen vollkommen verdeckt: Eine Art Staub hatte aus dem Himmel zu fallen begonnen, und der Ausschnitt, den Isaacs Lampe aus der Dunkelheit schnitt, wurde zusehends enger. Isaac meinte, dass es sich bei dieser Substanz um Schnee handeln könnte – er hatte Schnee in Videos gesehen –, aber Sulean sagte, das sei kein Schnee, das sei mehr wie Asche. Der Geruch war streng, schwefelig.
    Wie tote Sterne, dachte Isaac, die herabstürzen.
    Mrs. Rebka erwartete sie am Haupteingang des Gebäudekomplexes. Sie zog Isaac mit so festem Griff ins Innere, dass es ihm wehtat. Er sah sie schockiert an, vorwurfsvoll -Mrs. Rebka hatte ihm noch nie wehgetan, keiner der Erwachsenen hatte ihm je wehgetan. Sie ignorierte seinen Blick, hielt ihn in fester Umklammerung, sagte ihm, sie habe Angst gehabt, er würde sich in dieser, dieser…
    Ihr fehlten die Worte.
    Im Gemeinschaftsraum lauschte Dr. Dvali einem Audio-Feed aus Port Magellan, der großen Stadt an der Ostküste von Äquatoria. Das Signal wurde von Areostaten über die Berge geleitet und erreichte sie nur mit Unterbrechungen, wie Dr. Dvali den versammelten Bewohnern berichtete, doch hatte er immerhin in Erfahrung bringen können, dass die Hafenstadt das gleiche Phänomen verzeichnete – flächendeckende Niederschläge von etwas Ascheähnlichem – und dass es dafür keine unmittelbare Erklärung gebe. In der Stadt seien einige Menschen in Panik geraten. Dann fiel die Übertragung – oder der Aerostat, der das Signal übermittelte – endgültig aus.
    Auf Mrs. Rebkas Drängen hin ging Isaac auf sein Zimmer, während die Erwachsenen diskutierten. Er konnte jedoch nicht schlafen, ja konnte an Schlaf nicht einmal denken. Stattdessen saß er am Fenster, wo es nichts zu sehen gab als das tunnelartige Grau, das die Außenlampe in den Ascheregen grub, und lauschte dem Klang der Stille – einer Stille, die zu ihm zu sprechen schien, einer von Bedeutung durchdrungenen Stille.

 
2
     
     
    Als Lise Adams am Nachmittag des 34. August zu dem kleinen, abgelegenen Flugplatz fuhr, fühlte sie sich verloren, fühlte sie sich frei.
    Es war ein Gefühl, das sie nicht einmal sich selbst erklären konnte. Lag es vielleicht am Wetter? Ende August war es an der Küste von Äquatoria oft unerträglich warm, doch heute wehte ein sanfter Wind vom Meer her, und der Himmel zeigte sich in jenem Indigoblau, das sie automatisch mit der Neuen Welt assoziierte: tiefer, echter als die verschmierten Pastellhimmel auf der Erde. Frei, dachte sie, ja, frei: Eine Ehe lag hinter ihr, das vorläufige Scheidungsurteil war frisch ausgestellt, eine unkluge Entscheidung rückgängig gemacht… und jetzt die Begegnung mit dem Mann, der bei diesem Rückgängigmachen eine Rolle gespielt hatte. Aber da war noch so viel mehr. Eine von ihrer Vergangenheit abgetrennte Zukunft, eine schmerzliche Frage, die im Begriff stand, beantwortet zu werden.
    Und verloren, ja, beinahe buchstäblich: Sie war erst wenige Male in dieser Gegend gewesen. Südlich von Port Magellan, wo sie sich eine Wohnung gemietet hatte, flachte die Küste zu einer Schwemmebene ab, die einigen landwirtschaftlichen Betrieben und der Leichtindustrie überlassen worden war. Zu großen Teilen aber war sie noch wild, eine Art Prärie, von fedrigen Gräsern überwachsen, Wiesen, die sich wie Wellen an den Gipfeln der Küstenkette brachen. Es dauerte nicht lange, da sah sie kleine Flugzeuge, die auf

Weitere Kostenlose Bücher