Ayesha - Sie kehrt zurück
antwortete ich, obwohl ich wußte, daß das nicht der Fall war; er wehte noch stärker als vorher aus dem Süden.
Näher und näher schwebte die tanzende Flamme, zwei riesige, feurige Flügel, zwischen denen etwas Dunkles zu hängen schien. Sie erreichte die Stelle, an der die kleine, mumienhafte Gestalt stand, und schien sich um sie zu falten – wobei sie sie einen kurzen Augenblick lang in helles Licht tauchte. Dann erlosch das Licht, und die Flammenflügel verschwanden – alles verschwand.
Zeit verging – es mag eine Minute gewesen sein oder auch zehn Minuten, als plötzlich die Priesterin Papave in Befolgung eines Befehls, den wir nicht hören konnten, an mir vorbeiglitt. Ich wußte, daß sie es war, da ihre weibliche Kleidung mich berührte. Wieder eine Weile absoluter Stille und tiefen Dunkels. Ich hörte Papave zurückkommen; sie atmete in kurzen, erregten Stößen, wie ein Mensch im Zustand panischer Angst.
Ah! Ich war überzeugt, daß Ayesha sich in den Feuersee gestürzt hatte. Die Tragödie war beendet.
In diesem Moment klang die wunderbare Musik auf. Es konnte natürlich lediglich der Gesang von Priestern gewesen sein, aber ich glaube es nicht, da der Ton völlig anders war als alles, was ich bisher – und auch später – im Tempel gehört habe, anders als jede Musik, die ich jemals auf dieser Erde hörte.
Ich kann sie nicht beschreiben, doch sie war gleichzeitig grausig und lieblich. Sie schien aus der Tiefe des Vulkans zu kommen, schwoll an und ab – jetzt eine einzige, himmlische Stimme, dann ein voller Chor, und darauf ein erderschütterndes Dröhnen, als wenn hundert Orgeln gleichzeitig spielten.
Diese vielfältige, majestätische Musik schien alle menschlichen Emotionen einzuschließen und auszudrücken, und ich habe seit damals oft überlegt, daß dieser Gesang ihrer Wiedergeburt in seiner allumfassenden Breite und Tiefe symbolisch war für die unendliche Vielfältigkeit von Ayeshas Seele. Doch wie diese Seele hatte auch die Musik ihre Hauptthemen: Macht, Leidenschaft, Leid, Mysterium und Schönheit. Es konnte auch keinerlei Zweifel über die Bedeutung dieses Gesanges geben: es war eine Schilderung der wechselvollen Geschichte einer machtvollen Seele; es war die Anbetung einer göttlichen Königin!
Wie Weihrauchwolken, die zum hohen Gebälk einer Empore hinaufsteigen, verklang die überirdische Melodie.
Seht! Ein einzelner Sonnenstrahl schoß über den östlichen Horizont.
»Ein neuer Tag bricht an«, sagte die ruhige Stimme von Oros.
Der Lichtstrahl zerschnitt das Dunkel des Himmels über uns wie ein Flammenschwert. Dann senkte er sich, schien herabzufallen. Ja, er fiel, doch nicht auf uns, die wir im gedeckten Teil der Felskammer saßen, sondern auf sie, die auf der kleinen, offenen Plattform stand.
Oh! – und dort ... ihre Schönheit nur von dünnem Seidenstoff verhüllt – stand eine himmlische Gestalt. Sie schien zu schlafen, da sie die Augen geschlossen hielt. Oder war sie tot? Ihre Wangen sind blaß, wie die einer Toten. Seht! Das Licht der Sonne fällt auf ihr Gesicht, die dunklen Augen öffnen sich wie die Augen eines erstaunten Kindes; das Blut des Lebens strömt in die fahlen Wangen; die langen, blauschwarzen Haare wehen im Wind; die juwelenbesetzte Spange in Form eines Schlangenkopfes funkelt an ihrer Brust.
War es eine Illusion, oder war dies wirklich die Ayesha, wie wir sie gekannt hatten? Unsere Knie knickten ein, und, die Arme um des anderen Hals geschlungen, sanken Leo und ich zu Boden und blieben dort ausgestreckt liegen.
Eine Stimme, die süßer war als Honig, sanfter, als das Wispern einer Brise in der Dämmerung erklang über uns, und dies sind die Worte, die sie sprach:
»Komm zu mir, Kallikrates, damit ich dir den rettenden Kuß der Liebe und der Treue zurückgeben kann, den du mir vorhin auf die Stirn drücktest!«
Leo taumelte auf die Füße. Wie ein Betrunkener stolperte er auf Ayesha zu und sank erschüttert vor ihr auf die Knie.
»Erhebe dich!« sagte sie. »Ich bin es, die vor dir knien sollte.« Sie streckte ihre Hand aus und flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch Leo wollte oder konnte nicht aufstehen. Ayesha beugte sich über ihn und berührte mit ihren Lippen seine Stirn. Dann winkte sie mir. Ich trat vor sie hin und wollte mich ebenfalls niederknien, doch sie ließ es nicht zu.
»Nein«, sagte sie mit ihrer vollen Stimme, die mir so gut in Erinnerung geblieben war, »du bist kein Verehrer, Liebhaber und Verehrer kann ich, heute wie
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