Ayesha - Sie kehrt zurück
habe mich schwer gegen Dich versündigt und für meine Sünde mit endlosen Jahrhunderten der Einsamkeit bezahlt, mit der Häßlichkeit, die mich meinen Geliebten abstoßend erscheinen läßt, und statt des Diadems von Vollendung und Macht sitzt die Krone blanken Hohns auf meinem Haupt. Doch mit Deinem Atem, der mir das Licht brachte, und dann das Dunkel, hast Du mir geschworen, daß ich, die ich nicht sterben kann, eines Tages erneut die Blume meiner unsterblichen Schönheit pflücken soll.
Deshalb, gnadenvolle Mutter, die mich geboren hat, richte ich mein Gebet an Dich. Oh, laß die wahre Liebe dieses Mannes meine Sünden tilgen! Und wenn das nicht möglich ist, so gib mir den Tod, die letzte und größte all Deiner Gaben!«
16
Die Transformation
Sie schwieg, und es war totenstill, eine lange, lange Zeit. Leo und ich blickten einander niedergedrückt an. Wir hatten wider besseres Wissen gehofft, daß dieses wunderbare, mit soviel Leidenschaft und Inbrunst gesprochene Gebet, das anscheinend an den großen, stummen Geist der Natur gerichtet war, erhört werden würde. Das hätte natürlich ein Wunder verlangt. Aber wenn schon. Die Verlängerung von Ayeshas Leben war auch ein Wunder, wenn auch behauptet wird, daß einige Reptilien genauso lange leben.
Die Versetzung ihrer Seele von den Höhlen von Kôr zu diesem Tempel war ein Wunder, jedenfalls für unseren westlichen Verstand; nicht für die Bewohner dieses Teils von Zentralasien. Daß sie mit demselben, abstoßenden Körper wiedergeboren worden war, den sie in der Stunde ihres Todes gehabt hatte, war ein Wunder. Doch war es derselbe Körper? War es nicht der Körper der letzten Hesea? Uralte Frauen sehen einander sehr ähnlich, und achtzehn Jahre Arbeit der Seele oder Identität in diesem Körper mochte sehr wohl die trivialen Unterschiede beseitigt und der geborgten Form etwas Ähnlichkeit mit jener verliehen haben, die sie verlassen hatte.
Zumindest aber waren die Gestalten auf dem Feuerspiegel ein Wunder. Nein, wieso denn? Hundert Hellseher in hundert Städten können so etwas im Wasser oder in ihrer Kristallkugel sehen oder produzieren, und der einzige Unterschied lag in der Dimension. Es waren lediglich Reflexionen von Szenen, die in Ayeshas Erinnerung ruhten, oder vielleicht nicht einmal das. Vielleicht waren sie lediglich Phantasmen, die durch ihre mesmerische Kraft in unseren Gehirnen entstanden waren.
Nein, nichts von alldem war ein wirkliches Wunder, da jedes dieser Ereignisse, so seltsam es auch erscheinen mochte, eine logische Erklärung finden konnte. Mit welchem Recht erwarteten wir also jetzt ein Wunder?
Solche und ähnliche Gedanken kreisten in unseren Köpfen, als endlose Minuten kamen und vergingen und – nichts geschah.
Aber dann geschah doch etwas. Das Licht der Feuerwand wurde dunkler, und sie sank in sich zusammen. Doch auch dies war, für sich genommen, kein Wunder, denn wir hatten mit eigenen Augen von Weitem gesehen, daß die Helligkeit des Feuers häufig schwankte und gewöhnlich vor Beginn der Dämmerung schwächer wurde; und am östlichen Horizont zeigte sich jetzt das erste, graue Licht des neuen Tages.
Doch dieses immer tiefer werdende Dunkel verstärkte noch den grausigen Eindruck der Szene. Beim letzten rötlichen Feuerschein aus dem Schlund des Vulkans sahen wir, wie Ayesha sich erhob, in den offenen Teil des Raums trat und hart an der Kante stehen blieb, über die der tote Rassen in die Flammen des Vulkans gestoßen worden war. Wir sahen sie dort stehen, eine kleine, schattenhafte, gebeugte Gestalt vor dem dunkelroten Rauch, der noch immer aus der Tiefe der Erde aufstieg.
Leo wollte auf sie zustürzen, da er glaubte, daß sie sich ins Feuer stürzen wollte, wovon auch ich überzeugt war. Doch der Priester Oros und die Priesterin Papave, packten ihn bei den Armen – in Befolgung eines geheimen Befehls, vermute ich – und hielten ihn zurück. Inzwischen war es völlig dunkel geworden, und aus der Dunkelheit erklang Ayeshas Stimme, die in einer geheimen, heiligen Sprache, die uns unbekannt war, eine getragene Melodie sang.
Eine riesige Flamme schwebte durch das Dunkel, flatterte auf und nieder wie ein Vogel. Wir hatten so etwas in dieser Nacht schon mehrmals beobachtet, wenn der Wind Flammenfetzen aus dem glühenden See gerissen hatte. Aber ... aber ...
»Horace, sieh!« flüsterte Leo mit zitternder Stimme. »Die Flamme steigt gegen die Windrichtung auf!«
»Vielleicht hat der Wind sich gedreht«,
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