Ayesha - Sie kehrt zurück
wurde wütend.
»Ich bin mir keiner Sache sicher, Ayesha«, sagte ich, »außer, daß du uns mit deinen Tricks und Zaubereien zum Wahnsinn treiben willst. Sag, bist du ein Geist, wenn du keine Frau bist?«
»Wir alle sind Geister«, sagte sie nachdenklich, »und ich vielleicht mehr als andere. Wer kann das sagen?«
»Ich nicht«, antwortete ich. »Doch ich flehe dich an, Frau oder Geist, sag mir eines, und sprich die Wahrheit: Im Anbeginn, was warst du für Leo, und was war er für dich?«
Sie blickte mich eine Weile schweigend an, bevor sie antwortete:
»Täuscht mich meine Erinnerung, Holly, oder steht es im ersten Buch der Gesetze der Hebräer, welches ich einst studierte, daß die Söhne des Himmels herabkamen zu den Töchtern der Menschen, und feststellten, daß sie hübsch sind?«
»So steht es geschrieben.«
»Dann, Holly, könnte es nicht auch geschehen sein, daß eine Tochter des Himmels zu einem Mann der Erde herabstieg und ihn liebte? Könnte es nicht sein, daß sie, der gefallene Stern, der ihre Unsterblichkeit für ihn befleckt hatte, zur Strafe für diese große Sünde dazu verurteilt wurde, alle Leiden der Welt zu ertragen, bis eines Tages seine Liebe, durch Schmerz und durch die Treue, die er selbst einer Erinnerung hielt, sie erlöste?«
Endlich begann ich Licht zu sehen und sprang auf, doch sie setzte mit kühler Stimme hinzu: »Nein, Holly, hör auf, mir Fragen zu stellen, denn es gibt Dinge, über die ich nur in Andeutungen und Parabeln sprechen darf, nicht, um dich zu verwirren oder mich über dich lustig zu machen, sondern weil ich es muß. Leg sie dir aus, wie du willst! Atene jedenfalls hat mich nicht für eine Sterbliche gehalten, da sie uns sagte, daß Mensch und Geist sich niemals vereinen könnten; und es gibt Dinge, bei denen ich ihrem Urteil Gewicht beimesse, denn ohne Zweifel besitzt sie jetzt – wie auch in früheren Leben – genau wie ihr Onkel, der alte Schamane, Weisheit und – ja – die Sicht auf kommende Dinge, die ihr Präkognition nennt. Bitte also meinen Herrn, mich nicht mehr zu drängen, ihn zu heiraten, denn es schmerzt mich, seine Bitte abschlagen zu müssen. Ach! Du kannst nicht wissen, wie sehr es mich schmerzt.
Außerdem will ich dir ein Geständnis machen, mein alter Freund. Was immer ich sonst sein mag, zumindest bin ich zu sehr Frau, um das Flehen meines Geliebten anhören zu können, ohne daß es mir die Seele zerreißt. Sieh, ich habe meine Sehnsüchte so unendlich lange verleugnen und unterdrücken müssen, bis mein Herz blutete; doch wenn er mich ständig mit glühenden Worten und Blicken verfolgt, wer weiß, ob ich nicht in ihrer Hitze schmelzen und die Zügel der Vernunft fahren lassen werde?
Oh, dann würden wir zusammen den steilen Hang der Leidenschaft hinabrasen; zusammen in den reißenden Fluß stürzen, der am Fuß des Hanges braust, und dort vielleicht von den Fluten fortgespült und voneinander getrennt werden. Nein, nein, es liegt noch ein Weg vor uns, doch es ist nur ein kurzer Weg, dann haben wir die Brücke erreicht, die meine Weisheit gefunden hat, und auf ihr werden wir sicher über die Schlucht gelangen und auf der anderen Seite für immer durch die glücklichen Haine unserer Liebe schreiten.«
Sie schwieg, und sie weigerte sich auch, weiter über dieses Thema zu sprechen. Und ich wußte nicht – und dies war das schlimmste –, ob sie mir die Wahrheit gesagt hatte, und wenn, ob es die ganze Wahrheit war, denn für Ayesha schien die Wahrheit so vielfarbig zu sein wie das Spektrum des Lichts, das von den Facetten eines geschliffenen Brillanten reflektiert wird. Wir konnten niemals sicher sein, welche Farbe sie uns präsentierte, die, ob aus eigenem Willen oder aus Notwendigkeit, wie sie angedeutet hatte, von solchen Geheimnissen nur in Andeutungen und in Parabeln sprach.
Bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht darüber klargeworden, ob Ayesha nun ein Geist oder eine Frau ist, oder, wie ich vermute, eine Mischung von beiden. Ich kenne die Grenzen ihrer Macht nicht, und ich weiß nicht, ob die Geschichte vom Ursprung ihrer Liebe zu Leo wahr ist – was ich bezweifle – oder lediglich eine Fabel, die ihr Gehirn ersonnen hat.
Ich weiß nicht, ob sie, als wir sie auf dem Berggipfel sahen, wirklich alt und häßlich war, oder ob sie diese Vorstellung nur in unseren Augen schuf, um ihren Geliebten auf die Probe zu stellen. Ich weiß nicht – obwohl der Priester Oros diesen Vorgang bezeugt hat, doch das kann ihm auch befohlen worden sein
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