Ayesha - Sie kehrt zurück
Berghänge hinauf. Ihre Schönheit war wirklich unbeschreiblich; wenn man sie nur sah, fühlte man sich von dem Anblick berauscht. Ich begriff, während ich sie schweigend anblickte, daß allein ihre Schönheit, wie die der berühmten Helena – und sie war nur eine ihrer vielen Gaben –, unendlich viel Leid verursacht haben würde, hätte man ihr jemals erlaubt, sie der Welt zu zeigen. Sie hätte die Menschheit zum Wahnsinn getrieben, die Männer vor Verlangen, die Frauen vor Eifersucht und Haß.
Ich fragte mich, worin diese alles andere übertreffende Schönheit wohl eigentlich bestand. Ayeshas Gesicht und Figur waren makellos, gewiß; doch das trifft auch für eine ganze Reihe anderer Frauen zu. Daran allein konnte es also nicht liegen, sondern, wie ich glaube, besonders während ihrer menschlichen Stimmungen, wie ich sie nannte, an dem sanften Geheimnis, das auf ihrem Gesicht lag, das sich in ihren Augen spiegelte und ihren Ausdruck veränderte. So ein Mysterium findet man, wenn auch viel schwächer, in den Gesichtern einiger Meisterwerke griechischer Bildhauer, doch Ayesha umgab es wie eine allgegenwärtige Atmosphäre und verlieh ihr die besondere Schönheit, die nicht von dieser Erde war, sondern göttlich.
Während ich sie anblickte und mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, zuckte sie plötzlich zusammen, sprang erregt auf und deutete mit ausgestrecktem Arm zu dem verschneiten Berghang hinauf, der mehrere Meilen weit entfernt war.
»Sieh!«
Ich blickte in die Richtung, in die ihr Arm deutete, sah jedoch nichts.
»Blinder Narr! Kannst du nicht sehen, daß mein Herr in Lebensgefahr ist?« rief sie. »Nein, ich vergaß, daß du nicht die Gabe der Vision besitzt. Nimm sie von mir und sieh noch einmal hinauf!« Sie legte mir ihre Hand, von der eine seltsam betäubende Energie auf mich überzufließen schien, auf den Kopf und murmelte ein paar rasche Worte.
Sofort erschien die Vision, nicht auf dem Schneehang des Berges, sondern unmittelbar vor meinen Augen, in der Luft. Ich sah Leo, der mit einem riesigen Schneeleoparden rang. Ineinandergekrallt rollten Mensch und Katze im Schnee, während der/ Häuptling und mehrere Jäger um sie herumsprangen und nach einer Möglichkeit suchten, das wütende Tier mit ihren Speeren zu erledigen, ohne Leo zu verletzen.
Starr vor Angst schwankte Ayesha hin und her, bis der Kampf zu einem plötzlichen Ende kam. Ich sah, wie Leo sein langes Jagdmesser in den Bauch des Leoparden stieß, der sofort zur Seite fiel, noch ein paarmal zuckte und dann still lag. Leo stand auf und deutete lachend auf die von den Klauen des Tiers zerfetzte Kleidung. Einer der Jäger trat auf ihn zu und begann, ein paar Kratzer an Leos Armen und Beinen mit Stoffetzen zu verbinden, die er sich von der Unterkleidung gerissen hatte.
Die Vision verblaßte so rasch wie sie sich geformt hatte, und ich fühlte, wie sich Ayesha schwer auf meine Schulter lehnte, wie es jede andere Frau nach solchen Minuten der Angst auch getan hätte.
»Diese Gefahr ist vorübergegangen«, hörte ich sie flüstern, »doch wie viele werden noch folgen? Oh, gequältes Herz, wie lange kannst du das ertragen?«
Dann flammte Wut gegen den Häuptling und seine Jäger auf, und sie schickte Männer mit einer Bahre und Salben zum Hang hinauf mit dem Befehl, Lord Leo zurückzubringen und seine Begleiter unverzüglich zu ihr zu schicken.
»Du siehst, was ich erdulden muß, mein lieber Holly«, sagte sie, »und noch mehr habe ich all die Jahre erdulden müssen. Doch diese Hunde sollen mir meine Todesangst teuer bezahlen.«
Es war unmöglich, vernünftig mit ihr zu sprechen.
Vier Stunden später kam Leo zurück. Er humpelte hinter der Bahre her, auf der statt seiner, für den man sie hinaufgebracht hatte, ein Bergschaf und das Fell des Schnee-Leoparden lagen. Ayesha, die ihn im Vorzimmer ihrer Gemächer erwartete, glitt auf ihn zu – ich kann nicht sagen, daß sie ging – und überhäufte ihn mit Liebesworten und Vorwürfen. Er hörte ihr eine Weile schweigend zu, dann fragte er: »Woher weißt du von dieser Sache? Das Leopardenfell ist dir doch noch nicht überbracht worden?«
»Ich weiß davon, weil ich es gesehen habe«, antwortete sie. »Die schlimmste Wunde ist die über dem Knie. Hast du sie mit der Salbe behandelt, die ich dir geschickt habe?«
Er nickte. »Aber du hast den Tempel doch nicht verlassen. Wie konntest du alles sehen? Durch Magie?«
»Wenn du es so nennen willst – ja. Auf jeden Fall habe ich es
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