Ayesha - Sie kehrt zurück
wiedergeboren worden.
Hättest du mich heute zurückgewiesen, nachdem ich dir, wie mir befohlen worden war, diese Vision im Tempel gezeigt und dir die schwere Sünde meiner Seele offenbart hatte, wäre ich dazu verurteilt gewesen, hoffnungs- und hilflos, ohne den Schutz meiner irdischen Macht, in der Tiefe und der endlosen Nacht meiner Einsamkeit zu bleiben. Dies war die dritte Prüfung, die dir auferlegt wurde, die Prüfung deiner Seele, und durch deine Standhaftigkeit, Leo, hast du die Hand des Schicksals von mir genommen. Jetzt bin ich in dir wiedergeboren worden – durch dich darf ich wieder auf das wahre Leben im Jenseits hoffen, das du mit mir teilen sollst. Und doch, und doch ... wenn du Leid erfahren solltest, was sehr gut möglich sein könnte ...«
»Dann werde ich eben leiden«, sagte Leo ernst. »Mit Ausnahme von ein paar Kleinigkeiten ist mein Gewissen rein, und irgendwo muß es für uns alle Gerechtigkeit geben. Wenn ich die Fessel zerrissen habe, die dich gebunden hat, wenn ich dich von irgendeinem drohenden, geistigen Übel befreit habe, indem ich das Risiko einging, dir deine Schuld tragen zu helfen, so habe ich nicht umsonst gelebt und werde, falls es so sein soll, nicht umsonst sterben. Aber belasten wir uns nicht länger mit diesen Problemen. Doch eine Frage möchte ich noch beantwortet haben, Ayesha: wie ist deine Transformation auf dem Gipfel vor sich gegangen?«
»In der Flamme habe ich dich verlassen, Leo, und in der Flamme bin ich wieder zu dir zurückgekehrt; und in der Flamme werden wir vielleicht dereinst beide von der Welt scheiden. Vielleicht aber hat die Transformation auch nur in den Augen aller, die sie sahen, stattgefunden, und nicht in meinem Körper. Ich habe geantwortet. Mehr gibt es nicht zu sagen.«
»Nur eines möchte ich noch wissen: Ayesha, wir haben uns heute verlobt. Wann wirst du mich heiraten?«
»Noch nicht, nicht jetzt«, sagte sie hastig, und ihre Stimme zitterte. »Du mußt diesen Gedanken noch eine Weile aufschieben und dich ein paar Monate – ein Jahr vielleicht – damit begnügen, mein Freund und Verehrer zu sein.«
»Warum?« fragte er bitter enttäuscht. »Ayesha, dies war schon immer meine Rolle gewesen! Außerdem werde ich nicht jünger und stehe, im Gegensatz zu dir, an der Schwelle des Alters. Die Zeit verfliegt rasch, und manchmal habe ich das Gefühl, dem Ende nahe zu sein.«
»Sprich nicht solche Worte schlechten Omens!« sagte sie, sprang auf und stampfte in einer aus Angst geborenen Wut mit dem Fuß auf den Boden. »Denn deine Worte sind wahr; du bist nicht gefeit gegen die Mächte von Zeit und Zufall. Oh! Entsetzlich, entsetzlich; du könntest wieder sterben und mich allein zurücklassen.«
»Dann gib mir dein Leben, Ayesha!«
»Das würde ich mit Freuden tun, wenn du mir dafür nur die Gnade des Todes geben könntest.
Oh! Ihr armen Sterblichen«, fuhr sie mit einem plötzlichen, leidenschaftlichen Ausbruch fort, »ihr fleht eure Götter um die Gabe eines langen Lebens an, ohne zu ahnen, daß ihr damit einen Samen in eure Brust sät, durch den ihr tausendfaches Leid erfahrt. Weißt du nicht, daß diese Welt das Haus der Hölle ist, in dessen Kammern die Seele von Zeit zu Zeit vorübergehend Aufenthalt nimmt, um dann, müde und entsetzt, weinend zum Frieden zurückkehrt?
Denk einmal darüber nach, was es bedeutet, hier auf ewig leben zu müssen und doch Mensch zu sein; in der Seele zu altern und die geliebten Menschen sterben und in ein Land ziehen zu sehen, wohin man ihnen nicht folgen kann; für immer zu warten, während der Fluch der Jahrhunderte auf unser unvergängliches Ich fällt, so wie Wasser auf einen Diamanten tropft, den es nicht aushöhlen kann, bis sie wiedergeboren werden, ohne sich an uns erinnern zu können, nur um wieder aus unseren hilflosen Armen gerissen zu werden und in der unbekannten Tiefe zu versinken.
Denk, wie es ist, die Sünden zu sehen, die wir begehen, den verführerischen Blick, das unfreundliche oder lästerliche Wort – ja, selbst die eigensüchtigen Gedanken oder Taten, zehntausendfach multipliziert und ewiger als wir selbst, die aus dem universellen Busen der Erde wuchern, um Millionen Schicksale zu belasten, während der ewige Finger eine endlose Aufrechnung schreibt, und die kalte Stimme der Gerechtigkeit in unsere gewissensschwere Einsamkeit schreit: ›Oh! Sündige Seele, sieh die reifende Ernte, die deine leichtfertige Hand gesät hat, und sehne dich vergebens nach dem Wasser des
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