Ayesha - Sie kehrt zurück
–, ob ihr Geist wirklich in den Körper der alten Priesterin der Hes übergegangen ist, oder ob in den Höhlen von Kôr, als sie einen so erbärmlichen Tod zu sterben schien, ihr Körper und ihre Seele sofort von Afrika zu diesem zentralasiatischen Gipfel versetzt wurden.
Ich weiß nicht, warum sie, bei all der Macht, die ihr gegeben wurde, nicht uns gesucht hat, sondern tatenlos zusah, wie wir so viele, harte Jahre lang nach ihr suchten, doch ich glaube, daß ihr von irgendeiner höheren Macht verboten wurde, mehr zu tun, als uns ungesehen zu begleiten, uns bei jedem Schritt zu beobachten, unsere Gedanken zu lesen, bis wir sie zur vorbestimmten Stunde und am vorbestimmten Ort finden würden. Und es gibt, wie man sich denken kann, noch eine Reihe anderer Dinge, über die ich hier nicht sprechen mag, die mich quälten und verwirrten.
Kurz gesagt, ich weiß nichts, außer daß mein Leben aus irgendeinem Grund in eins der großen Mysterien dieser Welt verstrickt wurde; daß das übermenschlich schöne Wesen, das Ayesha genannt wurde, das Geheimnis des Lebens besaß, eine Gabe jener Macht, die Hüterin dieses Geheimnisses ist; daß sie behauptete – obwohl wir dafür, wie man sich denken kann, keinerlei Beweis besitzen – die Unsterblichkeit dadurch erreicht zu haben, indem sie in einer bestimmten Essenz gebadet habe; daß sie von einer Leidenschaft besessen war, die wohl niemals ganz verstanden werden kann, aber von urtümlicher Gewalt und von Anbeginn an unsterblich war, und die sich auf einen einzigen Menschen, und auf ihn allein, konzentrierte. Daß diese Leidenschaft ein verärgertes Schicksal herausforderte, sie immer und immer wieder und noch einmal zu strafen und ihre endlosen Tage zu einem einzigen Leidensweg zu verwandeln, und sie trotz all ihrer Macht und Weisheit, der jedoch die Gabe der Präkognition fehlte, in Schluchten von Qual, Ungewißheit und Enttäuschung zu stürzen, wie sie wir normalen Sterblichen – dem Himmel sei Dank! – niemals zu Gesicht bekommen.
Falls jemals der Blick eines Menschen auf diese Zeilen fallen sollte, so muß sich jeder Leser seine eigene Meinung über die Ereignisse bilden, und selbst Schlüsse daraus ziehen. Dies und die Rollen, die Atene und ich dabei spielten, hoffe ich bald lösen zu können – aber nicht hier.
Wie ich bereits erwähnt habe, wurde Ayesha von Sorgen um Leo zerfressen. Mit Ausnahme der Heirat wurde ihm jeder Wunsch erfüllt, manchmal, bevor er ihn äußerte oder auch nur dachte. So wurde er nie wieder gebeten, an einer der Zeremonien im Tempel teilzunehmen, obwohl die Religion des Tempels der Hes wirklich – wenn man von den Riten und Symbolen absieht – überaus harmlos war. Sie war nichts anderes, als eine blasse Version des alten Isis/Osiris-Kultes, der in Ägypten praktiziert worden war, untermischt mit dem zentralasiatischen Glauben an die Seelenwanderung oder Reinkarnation, und der Möglichkeit, sich durch Tugendhaftigkeit von Denken und Tun dem Ziel der höchsten Göttlichkeit nähern zu können.
Die Hohepriesterin, die gleichzeitig das Orakel war, wurde lediglich als Repräsentantin der Gottheit verehrt, die weltlichen Ziele des Tempels waren auf gute Werke beschränkt, obwohl es zutrifft, daß man dort den Verlust der Herrschaft über das Land Kaloon noch immer betrauerte. Der Tempel verfügte über mehrere Krankenhäuser, und während der langen und strengen Winter, wenn die Bergstämme Hunger litten, wurden sie großzügig aus den Vorräten des Tempels versorgt.
Leo wollte ständig bei Ayesha sein, also verbrachten wir fast jeden Abend in ihrer Gesellschaft, und auch den größten Teil des Tages, bis sie feststellte, daß diese Untätigkeit Leo, der daran gewöhnt war, alle Härten und jedes Klima zu ertragen, nicht bekam. Also bestand sie darauf – trotz aller Ängste, ihm könnte etwas zustoßen, daß er auf den Hängen des Berges auf Wildschafe und Ibex jagen sollte, von denen es hier eine ganze Menge gab, und vertraute ihn dem Schutz der Häuptlinge und Jäger der Stämme an, mit denen wir dadurch gut bekannt wurden. Ich konnte ihn auf diesen Expeditionen leider nicht begleiten, da mein Arm bei zu starker Belastung noch immer schmerzte.
Einmal kam es tatsächlich zu einem Unfall, wie es Ayesha in ihrer übergroßen Sorge um Leo immer befürchtet hatte. Ich saß mit ihr im Garten und sah sie an. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und blickte, anscheinend tief in Gedanken versunken, zu den Schneeflächen der höheren
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