Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ayesha - Sie kehrt zurück

Ayesha - Sie kehrt zurück

Titel: Ayesha - Sie kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
Vom Netzwerk:
geträumt, daß die schattenhafte Gestalt Ayeshas zu dir gekommen sei. Ist sie jemals von deiner Seite gewichen? Du hast geträumt, daß sie mit dir über Länder und Meere schwebte, über Orte, an die sich Erinnerungen eures gemeinsamen Lebens knüpfen, über die mysteriösen Berge des Unbekannten zu einem unentdeckten Gipfel. Führt sie dich nicht schon seit langem durch das Leben zu jenem Gipfel, der jenseits der Pforten des Todes liegt? Du hast geträumt ...«
    »Hör auf! Hör auf!« schrie er. »Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich werde Ayeshas Zeichen folgen! Denke, was du willst, Horace, und tu, was du willst! Ich jedenfalls werde morgen nach Indien aufbrechen; mit dir, wenn du dazu bereit bist, oder ohne dich.«
    »Warum bist du so grob, Leo?« sagte ich. »Du vergißt, daß ich kein Zeichen gesehen habe, und daß der Alptraum eines Mannes, der sich so nahe am Rand des Wahnsinns befindet, daß er erst vor wenigen Stunden den Selbstmord plante, eine sehr schwache Stütze ist, wenn wir im Schnee Zentralasiens verkommen. Eine sehr unzuverlässige Vision, Leo, mit einem Berggipfel, der wie ein crux-ansata geformt ist, und so weiter. Bist du der Überzeugung, daß Ayesha in Zentralasien wiedergeboren wurde – als eine Art weiblicher Dalai Lama oder etwas Ähnliches?«
    »Daran habe ich bisher nicht gedacht«, sagte Leo ruhig, »aber warum nicht? Erinnerst du dich an eine bestimmte Szene in den Höhlen von Kôr, als die Lebenden die Toten anblickten, und die Lebenden und die Toten gleich waren? Und erinnerst du dich, daß Ayesha geschworen hat, wiederzukommen – ja, in diese Welt; und wie könnte sie das tun, wenn nicht durch eine Wiedergeburt, oder, was dasselbe ist, durch eine Seelenwanderung?«
    Ich fand keine Antwort auf dieses Argument! Ich kämpfte mit mir um einen Entschluß.
    »Ich habe kein Zeichen erhalten«, sagte ich, »obwohl ich eine Rolle in diesem Spiel hatte, eine bescheidene Rolle, zugegeben, doch immerhin eine Rolle, die ich, wie ich glaube, noch immer spielen muß.«
    »Ja«, sagte er, »du hast kein Zeichen erhalten. Ich wünschte, daß dem so wäre. Oh! Wie sehr wünschte ich, daß du so überzeugt wärst wie ich, Horace!«
    Wir schwiegen eine lange Weile, den Blick auf den heller werdenden Himmel gerichtet.
     
    Es wurde ein stürmischer Sonnenaufgang. Eine dichte, phantastisch geformte Wolkendecke hing über der See. Eine der Wolken sah aus wie ein riesiger Berg, und wir blickten zu ihr hinauf. Sie veränderte ihre Form, und ihr Gipfel wurde zu einem riesigen Krater. Aus dem Krater drängte sich eine andere Wolke, ein langgezogenes, pfeilerförmiges Gebilde mit einem Knopf oder Klumpen an seiner Spitze. Plötzlich fielen die Strahlen der aufgehenden Sonne auf diesen Berg und den Pfeiler, und sie strahlten blendend weiß wie Schnee. Dann löste sich das Zentrum des Klumpens an der Spitze des Pfeilers, wie von den Strahlen der Sonne geschmolzen, auf, und zurück blieb ein riesiger Wolkenring.
    »Sieh!« sagte Leo mit leiser, beinahe verängstigt klingender Stimme. »Das ist die Gestalt des Berges, den ich in meiner Vision gesehen habe. Und dort ist der Ring auf seinem Gipfel, durch den der Schein des Vulkanfeuers fällt. Es scheint, als ob das Zeichen uns beiden gilt, Horace. «
    Ich blickte noch immer zu den Wolken hinauf, bis sich der dunkle Ring auflöste. Dann wandte ich mich Leo zu.
    »Ich werde mit dir nach Zentralasien gehen«, sagte ich.

2
     
    Das Lamakloster
     
     
    Seit jener Nacht in dem alten Haus in Cumberland waren sechzehn Jahre vergangen, und wir beide, Leo und ich, waren noch immer unterwegs, noch immer auf der Suche nach jenem Berggipfel, der wie das Lebenssymbol geformt ist, und den wir niemals finden konnten.
    Unsere Abenteuer würden mehrere Bände füllen, aber welchen Sinn hätte es, sie aufzuzeichnen? Viele Erlebnisse ähnlicher Art sind in Büchern beschrieben worden; die unseren hatten länger gedauert, das ist alles. Fünf Jahre hatten wir in Tibet verbracht, zumeist als Gäste mehrerer Klöster, wo wir die Gesetze und Traditionen der Lamas studierten. Hier waren wir auch einmal zum Tode verurteilt worden, weil wir eine verbotene Stadt besucht hatten, doch gelang es uns dank der Hilfe eines chinesischen Beamten, zu entkommen.
    Nachdem wir Tibet verlassen hatten, waren wir nach Osten, Westen und Norden gezogen, tausende und tausende Meilen, hatten uns bei vielen Stämmen auf chinesischem Territorium und in anderen Ländern aufgehalten, viele Sprachen

Weitere Kostenlose Bücher