Ayesha - Sie kehrt zurück
hinter euch!« rief sie plötzlich und breitete die Arme aus.
Wir wandten uns um und blickten durch den offenen Teil der Wand in den Vulkan. Zunächst sahen wir nichts, außer dem gewaltigen Feuertrichter. Der Wind schien jetzt schärfer geworden zu sein, denn er schäumte die glühende Masse an der uns gegenüberliegenden Kraterwand empor wie in Brechern. Und auf dieser blutroten Fläche, die aus dem ewigen Feuer der Erde emporgeweht wurde, entstand jetzt vor unseren Augen ein Bild, wie in der magischen Kristallkugel eines Sehers.
Dort! Ein Tempel steht im Sand der Wüste, am Rand eines breiten, von Palmen gesäumten Flusses, und über seinen pylonenumfaßten Hof zieht eine Prozession von Priestern. Dann ist der Hof leer. Ich sehe den Schatten eines Falken über seine sonnenhellen Steine gleiten. Ein Mann in der weißen Robe eines Priesters, barfuß und mit rasiertem Schädel, tritt durch das südliche Pylonentor in den Hof und geht langsam auf den bemalten Granitschrein zu, in dem die Statue einer Frau steht, die die Doppelkrone Ägyptens auf dem Kopf trägt und in ihrer rechten Hand das heilige Sistrum hält. Plötzlich, als ob er ein Geräusch gehört hätte, bleibt der Priester stehen und blickt in unsere Richtung. Bei allen Himmeln, sein Gesicht ist das Leos in jüngeren Jahren, und auch das Gesicht des Kallikrates, dessen Leichnam wir in den Höhlen von Kôr gesehen haben!
»Sieh! Sieh!« rief Leo erregt und packte meinen Arm. Ich nickte nur, ohne meinen Blick von der Vision zu wenden.
Der Mann geht weiter, kniet sich vor die Statue der Göttin nieder, umarmt ihre Füße und versinkt im Gebet. Jetzt wird das Tor geöffnet, und eine Prozession zieht über den Hof des Tempels, angeführt von einer adelig wirkenden Frau, die Opfergaben in ihren Händen trägt, die sie vor dem Schrein abstellt. Dann beugt sie die Knie vor der Statue der Göttin. Anschließend wendet sie sich zum Gehen, und ich sehe, wie sie verstohlen die Hand des jungen Priesters berührt, der zunächst zögert, ihr dann jedoch folgt.
Als alle ihre Begleiter den Hof verlassen haben, bleibt sie allein im Schatten eines Pylonen zurück, flüstert dem Priester etwas zu und deutet auf den Fluß und auf das Land, das südlich von ihm liegt. Er ist verstört; er spricht auf sie ein, bis sie, nach einem raschen Blick nach links und rechts, ihren Schleier fallen läßt, sich ihm nähert, und – ihre Lippen sich treffen.
Als sie nach diesem Kuß davonläuft, ist ihr Gesicht uns zugewandt – es ist das Gesicht von Atene, und auf ihrem dunklen Haar liegt eine Uräusschlange, das Symbol königlichen Ranges. Sie blickt zu dem kahlgeschorenen Priester zurück und lacht triumphierend, deutet auf die tiefstehende Sonne, auf den Fluß, und dann ist sie verschwunden.
Ja, und ihr Lachen, das aus längst vergangenen Zeiten zu uns herüberschallte, wird von Atene wiederholt. Auch in ihrem Lachen liegt offener Triumph, und sie ruft dem Schamanen zu: »Mein Herz und du haben recht behalten! Du hast doch gesehen, wie ich ihn damals gewonnen habe!«
Die Hesea sagte eisig: »Schweig Frau, und sieh, wie du ihn damals wieder verloren hast!«
Die Szene hat gewechselt, auf einer Couch liegt schlafend eine wunderschöne Frau.
Sie träumt, und es ist ein beängstigender Traum: eine schattenhafte Gestalt beugt sich über sie und flüstert ihr etwas ins Ohr. Die Gestalt trägt die Embleme der Göttin im Schrein, doch auf ihrem Kopf trägt sie jetzt eine Geierkappe. Die Frau schreckt aus dem Schlaf und blickt umher. Und ihr Gesicht ist das Gesicht Ayeshas, wie wir es gesehen hatten, als sie in den Höhlen von Kôr zum ersten Mal ihren Schleier hob.
Wir seufzten tief auf. Der Anblick ihrer überirdischen Schönheit verschlug uns die Sprache.
Wieder schläft sie, und wieder beugt sich die Gestalt mit der Geierkappe über sie und flüstert ihr etwas zu. Sie deutet, der Hintergrund des Bildes öffnet sich: auf einer stürmischen See schlingert ein Boot, und in dem Boot sitzen, ängstlich aneinandergeklammert, der Priester und die königliche Frau, während über ihnen, wie ein Schatten der Rache, ein kahlköpfiger Geier schwebt, ein Geier von der Art, wie ihn die Göttin jetzt an ihrer Kappe trägt.
Das Bild verblaßt auf dem feurigen Hintergrund, und kurz darauf formt sich ein anderes. Zuerst sehen wir eine große Höhle mit glatten Wänden und einem Boden aus weichem Sand, eine Höhle, an die wir uns nur zu gut erinnerten. Auf dem Sandboden liegt der Priester, dessen
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