AZRAEL
war: Sendig hatte eine weitere Schublade aufgezogen und kramte darin herum - wahrscheinlich suchte er die Patronen für die Waffe, die er sichtlich seit Monaten oder vielleicht auch Jahren nicht mehr in die Hand genommen hatte -, aber seine Bewegungen waren etwas zu schnell und etwas zu he c tisch, sein Lächeln ein wenig zu verkniffen. Sendig spielte keine Spielchen mit ihm. Er war nervös. Sehr nervös.
In versöhnlicherem Tonfall fuhr er fort: »Wenn Sie mir die Adresse sagen, gehe ich hinaus und rufe Hansens Frau an. Sie wird mittlerweile wahrscheinlich halb verrückt vor Sorge sein.«
Sendig hatte die Patronen gefunden und begann das Magazin zu laden. Er sah überallhin, nur nicht in Bremers Richtung. »Das wird nicht gehen, fürchte ich«, sagte er.
»Wieso nicht? Ich denke, Sie wissen, wo er ist.«
»Das weiß ich auch. Aber ich fürchte, wir können es ihr im Moment noch nicht sagen. Jedenfalls nicht, ehe ich nicht etwas ... überprüft habe.« Eine der Patronen, die er mit mehr Kraft als Geschick in das Magazin schob, entglitt seinen Fingern und rollte über den Schreibtisch. Bremer griff automatisch zu, verfehlte sie aber und mußte sich bücken, um sie vom Boden aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete und sie Sendig reichte, zitterten dessen Hände so stark, daß er Mühe hatte, das Geschoß zu ergreifen.
»Was ist los mit Ihnen, Sendig?« fragte Bremer gerade heraus.»
Was soll sein?« fragte Sendig. »Ich bin müde und vielleicht ein bißchen nervös, und -«
»Quatsch«, unterbrach ihn Bremer. »Sie sind nicht ein bißchen n ervös. Sie haben Angst.«
Sendig überraschte ihn erneut. Er versuchte nicht einmal, zu leugnen. »Ja, vielleicht«, gestand er. Seltsamerweise wirkte er plötzlich wieder ruhiger - fast als hätte ihm allein dieses Eingeständnis geholfen, mit seiner Furcht fertig zu werden. »Es hat wohl nicht viel Sinn, Ihnen etwas vormachen zu wollen, oder? Aber jetzt fragen Sie mich bitte nicht, wovor ich mich fürchte. Ich werde es Ihnen erzählen, aber zuerst muß ich noch etwas überprüfen.«
»Noch etwas?« fragte Bremer.
»Nein, es ist das gleiche.« Sendig hatte die Pistole endlich geladen und begann umständlich das Schulterhalfter anzul e gen. Sein ungeschicktes Hantieren bestätigte Bremers Theorie: Es war etliche Jahre her, daß er diese Bewegungen das letzte Mal ausgeführt hatte. Bremer hatte immer gedacht, daß man so etwas nie wieder verlernt, aber das schien nicht zu stimmen.
»Wir können beides an einem Ort erledigen«, fuhr Sendig fort. »Uns um Hansen kümmern und meine Theorie überprüfen.«
»Und dazu brauchen Sie eine Waffe?«
»Vielleicht.« Sendig biß sich auf die Unterlippe. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein Schatten in seinen Augen, aber er erlosch zu schnell, als daß Bremer sicher sein konnte. »Wahrscheinlich nicht, aber ich habe mir sowieso vorgenommen, das Ding dann und wann einmal wieder zu tragen. Nur, um nicht aus der Übung zu kommen.« Dann wurde seine Stimme leiser, und plötzlich war der Schatten nicht mehr in seinem Blick, sondern in seinen Worten: »Wenn wir das finden, was ich befürchte, wird sie mir sowieso nichts nutzen. Aber es ist vielleicht ein gutes Gefühl, wenigstens eine Waffe dabeizuhaben.«
»Was befürchten Sie denn zu finden?« fragte Bremer.
Tatsächlich setzte Sendig zu einer Antwort an. Im allerletzten Moment stockte er, blinzelte überrascht und drohte Bremer dann spielerisch mit dem Finger. »Nicht schlecht, der Versuch«, sagte er. »Beinahe hätte es geklappt. Aber nur beinahe. Ich sagte Ihnen doch - Sie werden alles erfahren, sobald ich Gewißheit habe.«
Bremer schüttelte den Kopf. »Jetzt«, sagte er. »Es reicht, Sendig. Ich habe keine Lust mehr, wie ein Dummkopf herumzulaufen und nicht einmal zu wissen, wonach wir eigentlich suchen.«
»Das weiß ich ja selbst nicht«, sagte Sendig. »Okay, ich weiß, Sie glauben mir nicht, aber es ist die Wahrheit. Ich ... weiß es nicht. Noch nicht. Ich habe eine Theorie, aber sie ist einfach zu verrückt, um sie auszusprechen.«
»Verrückt?« Bremer lachte ganz leise und ohne Humor. Was von allem, was er seit der vergangenen Nacht erlebt hatte, war wohl nicht verrückt, auf die eine oder andere Weise? »Oder haben Sie einfach Angst davor?«
Sendig blickte ihn kopfschüttelnd an. »Bremer, Bremer«, seufzte er. »Warum versuchen Sie ständig, mir einzureden, daß ich Angst habe?«
»Haben Sie es nicht gerade selbst zugegeben?«
»Habe ich das?« Sendig
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