AZRAEL
verzog abfällig die Lippen. »Was interessiert mich mein dummes Gerede von eben?« Er streckte die Hand nach der hoffnungslos veralteten Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch aus und drückte eine Taste. Ein leises Summen ertönte, als sich das viel modernere Gegenstück draußen im Vorzimmer einschaltete, und eine Frauenstimme fragte: »Ja?«
»Nadine? Haben Sie die Liste, um die ich Sie gebeten habe?«
»Sie ist fertig. Ich bringe sie Ihnen sofort.«
Sendig ließ die Taste los und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. Er machte nicht den Eindruck, als hätte er vor, weiterzureden oder gar Bremers Fragen zu beantworten, und Bremer wußte auch, daß es vollkommen sinnlos war, weiter zu bohren. Trotzdem: Er hätte schon blind sein müssen, um nicht zu sehen, daß mit Sendig etwas nicht stimmte, spätestens seit dem Moment, in dem er ihm das Foto gezeigt hatte, das er in Mogrods improvisierter Dunkelkammer gefunden hatte. Bisher hatte es Sendig verstanden, jeder direkten Antwort auf eine entsprechende Frage auszuweichen. Aber es gab auch Fragen, die nicht ausgesprochen werden mußten, und die hatte er beantwortet.
Die Tür wurde geöffnet, und eine von Sendigs Sekretärinnen kam herein. Sie war noch überraschend jung und ausnehmend hübsch, aber sehr unattraktiv gekleidet und nicht besonders gut geschminkt. Wahrscheinlich war das Absicht, dachte Bremer.
»Die Liste, die Sie haben wollten, Herr Kommissar«, sagte sie, während sie Sendig einen engbeschriebenen Computerausdruck reichte. Ihr Blick streifte Bremer, und sie hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, ihre Verwunderung zu verhehlen, ihn hier zu sehen. Gemeine Schutzpolizisten verirrten sich offensichtlich nicht sehr oft in diese heiligen Hallen.
»Danke, Nadine.« Sendig nahm das Blatt entgegen und legte es mit der beschriebenen Seite nach unten auf den Tisch.
»Bitte. Eine ziemlich lange Liste, finde ich. Das scheint ja eine regelrechte Epidemie zu sein. Glauben Sie, daß etwas für uns dabei ist?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sendig. »Wenn ja, lasse ich es Sie wissen. Das war alles.«
Die junge Frau wirkte ein wenig bestürzt Sendig hatte die Stimme nicht einmal erhoben, aber auch Bremer war der unwillige Klang in seinen Worten nicht entgangen. Wenn er an den Ruf dachte, den Sendig allgemein genoß, war das für sie wahrscheinlich schon ein deutliches Warnsignal. Sie hatte es auch plötzlich sehr eilig, sich herumzudrehen und zu gehen, blieb aber auf halbem Wege zur Tür wieder stehen.
»Meckenbroich hat schon wieder angerufen«, sagte sie. »Das dritte Mal in einer halben Stunde. Was soll ich ihm sagen?«
Diesmal gab sich Sendig keine Mühe mehr, seine Verärgerung zu verbergen. »Wimmeln Sie ihn ab«, sagte er.
»Aber er sagte, es wäre sehr dringend.«
Sendig schnaubte. »Wenn der Herr Ministerialpräsident noch einmal anruft, dann sagen Sie ihm, daß ich den ganzen Tag außer Haus bin und Sie nicht wissen, wie Sie mich erreichen sollen«, sagte er ungehalten. »Verflucht, wimmeln Sie ihn irgendwie ab. Dazu sind Sie schließlich da.«
Auf Nadines Gesicht erschien ein Ausdruck, der Bremer unwillkürlich Mitleid mit ihr empfinden ließ. Aber sie war k lug genug, nicht mehr zu widersprechen, sondern ging ohne ein weiteres Wort und sehr schnell.
»Ärger?« fragte Bremer, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Würde Sie das freuen?«
»Nein«, antwortete Bremer ehrlich. »Mir fällt nur auf, daß Sie sehr gereizt sind, das ist alles.«
Sendig schenkte ihm einen finsteren Blick und ersparte es sich, zu antworten. Statt dessen nahm er das Blatt, das ihm seine Sekretärin gebracht hatte, wieder zur Hand und vertiefte sich für endlose Sekunden darin. Bremer behielt ihn aufmerksam im Auge, aber Sendigs Gesicht verriet nichts. Er hatte sich wieder völlig in der Gewalt.
Ganz plötzlich, unvermittelt und ohne Bremer dabei anzusehen sagte er: »Wenn es Sie freuen würde, hätten Sie Grund dazu. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen heute morgen über gewisse Dienstausweise erzählt habe?«
»Ja«, antwortete Bremer.
Sendig starrte noch immer auf das Blatt. »Meckenbroich hat einen solchen Dienstausweis«, sagte er. »Konkret ist er der einzige Besitzer eines solchen Ausweises, den ich namentlich kenne. Aber ich vermute, es gibt noch ein paar andere.«
»Was... meinen Sie damit?« fragte Bremer verwirrt.
»Vielleicht nichts.« Sendig ließ das Blatt wieder sinken und sah Bremer nachdenklich über den Tisch
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