AZRAEL
sich gehütet, es laut auszusprechen, aber Sendig schien irgend etwas in dieser Art zu erwarten, denn er lächelte einen ganz kurzen Moment lang, ehe er wieder ernst wurde und hinzufügte: »Ich meine es ernst, Bremer. Haben Sie sich schon einmal Gedanken über Ihren schlimmsten Alptraum gemacht? Etwas, dessen bloßer Anblick schrecklich genug wäre, Sie um den Verstand zu bringen?«
»Sie meinen, so weit, daß ich meine Wohnung schwarz anmale und aus dem Fenster springe?« fragte Bremer.
Sendig nickte. »Zum Beispiel.«
»So etwas gibt es nicht«, antwortete Bremer, mit einer Überzeugung in der Stimme, die er nicht einmal annähernd empfand. Es war noch nicht lange her, da hattet er etwas gesehen, das ihn vielleicht nicht in den Wahnsinn, aber doch an den Rand seiner Selbstbeherrschung getrieben hatte.
»Wer weiß«, sagte Sendig. »Aber Sie werden zugeben, daß es gewisse Drogen gibt, die eine solche Wirkung haben können.«
Allmählich wurde die Sache doch noch interessant. Sendig redete zwar weiter um den heißen Brei herum, aber die Kreise, die er zog, wurden beständig kleiner. Warum sagte er nicht einfach, was er dachte? Es gehörte nicht unbedingt das kriminalistische Talent eines Sherlock Holmes dazu, um sich zusammenzureimen, daß er über die Substanz sprach, die sie in der Nacht in Löbachs Kühlschrank gefunden hatten.
»Sicher«, antwortete er. »Aber das ist doch wohl etwas anderes, oder? Möglicherweise hat dieser Löbach Drogen genommen, und vielleicht sogar der Fotograf. Aber Artner? Und dieser Pathologe?«
»Und vermutlich noch ein paar andere - ich sagte ja, ich muß erst noch eine paar Dinge klären, ehe ich Ihnen meine Theorie mitteilen kann«, sagte Sendig. »Ich —«
Das Telefon klingelte. Sendig blickte den Apparat einen Moment lang feindselig an, ehe er mit einer eindeutig widerwilligen Bewegung abhob und sich meldete: »Ja?«
Was immer er hörte, dachte Bremer - es gefiel ihm nicht. Das Gespräch dauerte nur ein paar Augenblicke, und Sendig sagte kein Wort, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
Nachdem er eingehängt hatte, starrte er ein paar Sekunden lang an Bremer vorbei ins Leere. Dann stand er mit einem Ruck auf. »Kommen Sie. Wir kümmern uns jetzt zuerst einmal um Ihren Kollegen Hansen. Reden können wir genausogut im Wagen.«
Bremer machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. Er hatte zumindest etwas erwartet, das einer Erklärung nahekam, aber Sendigs sonderbare Frage hatte seine Verwirrung nur noch gesteigert. Er erhob sich ebenfalls und wollte nach dem Bild greifen, aber Sendig war schneller. Mit einer raschen Bewegung verstaute er es in der Innentasche seines Jacketts und kam gleichzeitig um den Schreibtisch herum. »Kommen Sie, Bremer, beeilen wir uns ein bißchen.«
Seine plötzliche Hast wäre Bremer selbst dann aufgefallen, w enn er nicht schon vorher gewußt hätte, daß mit Sendig etwas nicht stimmte. Er folgte ihm gehorsam, machte aber ein paar schnelle Schritte, so daß er ihn kurz vor der Tür einholen und mit einer entsprechenden Bewegung zum Stehenbleiben bringen konnte. »Was ist los?« fragte er geradeheraus. »Wieso haben wir es plötzlich so eilig?«
Er rechnete fest mit einer weiteren Ausflucht oder gar keiner Antwort, aber Sendig überraschte ihn erneut. »Ich glaube, ich habe ein bißchen zuviel herumtelefoniert«, sagte er. »Das Gespräch gerade...«
»Wieder jemand, der Ihnen einen Gefallen schuldig ist?« fragte Bremer spöttisch.
Sendig nickte. »Ja. Ich bin ein sehr hilfsbereiter Mensch, wissen Sie. Wenn man sich das zum Prinzip macht, dann gibt es am Ende eine Menge Leute, die Ihnen einen Gefallen schulden. Und jetzt kommen Sie - wir haben wirklich keine Zeit mehr zu verlieren. Reden können wir wirklich auch im Wagen.«
Ehe Bremer Gelegenheit gefunden hätte, erneut zu wider sprechen, öffnete er die Tür und trat ins Vorzimmer hinaus, und allein die Autorität dieses geschäftigen Raumes mit seinen drei Sekretärinnen und dem beachtlichen Präventivaufgebot an Technik machte es Bremer unmöglich, ihn abermals aufzuhalten.
»Ich bin dann außer Haus, Nadine«, sagte Sendig, während sie dem Ausgang zusteuerten. »Sie können pünktlich Feierabend machen. Ich komme heute wahrscheinlich nicht mehr herein.«
»Aber Me —«
»Und ich bin auch für niemanden zu erreichen, verstanden?« Sendig hielt für einen Moment im Schritt inne und maß seine Sekretärin mit einem Blick, unter dem sie sichtlich zusammenzuschrumpfen schien.
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