AZRAEL
»Auch nicht über Funk. Im Notfall können Sie mich über meine Privatnummer im Wagen anrufen, aber nur Sie, und wirklich nur im äußersten Notfall. Sollte das Telefon klingeln und jemand anders als Sie dran sein, können Sie sich als gefeuert betrachten, verstanden?«
»Selbstverständlich«, antwortete Nadine kleinlaut. Bremer verspürte erneut ein heftiges Mitleid mit ihr und ihren beiden Kolleginnen. Er fragte sich, wie es jemand aushielt, Jahre oder gar Jahrzehnte für einen Chef wie Sendig zu arbeiten. Er selbst war noch nicht einmal seit zwölf Stunden mit ihm zusammen, und das waren schon zwölf Stunden zuviel.
»Sind Sie immer so unfreundlich zu Ihren Leuten?« fragte er, als sie das Vorzimmer verlassen hatten und d en Aufzug ansteuerten.
»Wenn ich schlechte Laune habe, ist es schlimmer«, antwortete Sendig. »Richtig unfreundlich werde ich eigentlich nur zu Leuten, die ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen.«
»Verstanden«, sagte Bremer. »Das war deutlich genug.«
»Das sollte es sein«, antwortete Sendig. Sie hatten den Aufzug fast erreicht, als ein leiser Glockenton erscholl und die Türen sich zu schließen begannen. Bremer wollte instinktiv schneller ausschreiten - sie waren nur noch zwei, drei Schritte entfernt, und er hätte die Kabine bequem erreichen und aufhalten können, indem er die Lichtschranke in der Tür unterbrach. Aber Sendig hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.
»Lassen Sie«, sagte er. »Wir nehmen die Treppe.«
Bremer blickte ihn fragend an. Es waren fünf Stockwerke bis nach unten. »Wieso?«
»Ich bin auf den Geschmack gekommen«, antwortete Sendig. »Das Treppensteigen in Mogrods Haus hat mir wirklich Spaß gemacht. Mal sehen, ob es hier auch funktioniert.«
»Sehr komisch«, sagte Bremer. Aber er folgte Sendig trotzdem gehorsam, als dieser sich herumdrehte und mit plötzlich sehr viel schnelleren Schritten als bisher den Weg zurückging, um die schmale Tür am Ende des Flures zu erreichen. Sendig öffnete sie, wedelte ungeduldig mit der Hand, als Bremer ihm nicht rasch genug folgte, und zögerte gerade lange genug, damit es auffiel, ehe er die Tür wieder schloß. Lange genug, dachte Bremer, um dem Aufzug noch einen prüfenden Blick zuzuwerfen.
»Vor wem laufen wir davon?« fragte er, als sie nebeneinander die Treppe hinuntergingen.
»Tun wir das?« entgegnete Sendig ausweichend.
»Aber nein doch«, sagte Bremer. »Sie haben es ja selbst gesagt: Treppensteigen macht Spaß. Außerdem ist es gesund, nicht wahr?«
»Ich laufe vor niemandem davon « , antwortete Sendig betont. »Sagen wir: Ich erwarte jemanden, mit dem ich im M o ment nicht unbedingt reden möchte.«
Das war alles, was er zu diesem Thema äußerte, bis sie das Erdgeschoß erreichten. Bremer versuchte noch zwei- oder dreimal, ihm eine Antwort abzuluchsen, aber Sendig schaltete jetzt wieder auf stur und sagte gar nichts. Schließlich sparte sich Bremer seinen Atem dafür, neben ihm die Stufen hinunterzulaufen und irgendwie mit ihm Schritt zu halten. Wie schon einmal an diesem Tag bewies ihm Sendig, daß älter nicht zwingend auch schlechter in Form zu sein bedeutete. Bremer war in Schweiß gebadet, nachdem sie die fünf Treppen hinuntergelaufen waren, während Sendig nur ein bißchen schwerer atmete als normal.
»Warten Sie hier«, sagte er. »Ich bin sofort zurück.«
Er öffnete die Tür und schlüpfte hindurch, und Bremer blieb allein im Treppenhaus zurück. Er war beinahe dankbar für die kurze Pause. Sie waren die letzten beiden Etagen mehr hinuntergerannt als gegangen. Seine Waden und sein Rücken schmerzten, und er spürte jede einzelne Stufe, die sie hinuntergegangen waren. Außerdem schlug sein Herz so schnell, daß er ein paarmal bewußt tief ein- und ausatmete, um seine Lungen mit frischem Sauerstoff vollzupumpen. Er war wirklich nicht gut in Form. Und auch wenn Sendig es sich nicht anmerken ließ, konnte er sich kaum besser fühlen. Warum also hatte er diese unnötige Anstrengung in Kauf genommen? Bestimmt nicht nur, weil er irgend jemandem nicht begegnen wollte. Es sei denn, es war eben nicht irgend, sondern ein ganz bestimmter Jemand.
Zum Beispiel jemand mit einer ganz bestimmten Art von Dienstausweis?
Weit über ihm fiel eine Tür ins Schloß. Bremer fuhr zusammen, drehte sich hastig herum und legte den Kopf in den Nacken. Aus irgendeinem Grund brannte hier unten, im Erdgeschoß, kein Licht, aber die darüber liegenden Etagen waren hell erleuchtet. Die Treppe
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