AZRAEL
Dutzende winziger weißer Halogenscheinwerfer, und im nächsten Moment riß Bremer ungläubig die Augen auf.
»Großer Gott!« flüsterte Sendig.
4. Kapitel
Der Raum war dunkel und groß. Zwar brannte Licht – eine nicht zu schätzende Anzahl von Kerzen, die, einem asymmetrischen Muster folgend, im Zimmer verteilt waren -, aber etwas stimmte mit diesem Licht nicht. Es war da, aber es war nicht wirklich hell, als erreiche es die Oberfläche der Dinge nicht. Und es verwirrte eher, statt irgend etwas erkennen zu lassen, wie leuchtendes Wasser, das um dunkle Inseln herumfloß, ohne ihre Oberfläche zu benetzen. Was er sah, sah er nicht wirklich, sondern erriet es mehr, so daß er in einer Welt der Dinge war, die existieren konnten, nicht solcher, die tatsächlich waren: Gestalten – fünf, vielleicht sechs oder auch sieben, die im Kreis auf dem Boden saßen und sich an den Händen hielten, wobei sie den Oberkörper im Takt einer unhörbaren Melodie hin und her wiegten. Ihre Gesichter waren leere Flächen ohne Augen und Münder, die massiven Umrisse weniger, aber sehr schwerer Möbelstücke, deren Verteilung mit der der Kerzen korrespondierte und ebensowenig zu bestimmen war, und dazwischen etwas, das ein leuchtendes Kreuz hätte sein können, wäre es nicht zu groß gewesen und zugleich zu organisch.
Ein durchdringender Geruch hing in der Luft, und die Klarheit, die ihm seine Augen nicht liefern konnten, versuchten seine anderen Sinne durch übermäßige Schärfe zu kompensieren. Er spürte jede winzige Unebenheit des Bodens, auf dem er saß. Den leichten Luftzug auf der Haut, der durch das nur angelehnte Fenster hereinstrich. Die winzigen Falten, die seine Kleidung warf, und die Wärme der beiden Hände, die er berührte. Er war Teil des Kreises, und wie die anderen wiegte er den Oberkörper in regelmäßigen Bewegungen, h örte jedoch die lautlose Melodie nicht, deren Rhythmus er dabei folgte.
Das war falsch. Er war Teil dieses Kreises, zugleich aber auch wieder nicht, sondern ausgeschlossen. Und obwohl er noch nicht einmal wußte, weshalb, erfüllte ihn dieser Gedanke mit einem tiefen Bedauern. Er hatte etwas verloren, schlimmer noch, etwas war ihm genommen worden und obwohl dies selbst für das Wissen um das galt, was es gewesen war, verspürte er einen tiefen Schmerz und zugleich Zorn darüber, denn immerhin wußte er noch, daß es etwas ungemein Großes, Wertvolles und Schönes gewesen war.
Das Licht flackerte. Im ersten Moment dachte er, ein Luftzug hätte die Kerzen berührt, aber die zahllosen winzigen Flämmchen bewegten sich nicht. Trotzdem war zu der Bewegung der Sitzenden eine andere hinzugekommen : die der Schatten, die zu wandern begannen. Er sah auf und erkannte, daß es das leuchtende Kreuz war, das sich auf ihn zubewegte. Es war nicht wirklich ein Kruzifix, sondern eine schlanke Mädchengestalt in einem schmucklosen weißen Kleid, das bisher mit ausgebreiteten Armen dagestanden hatte. Von seiner Gestalt ging tatsächlich ein mildes, goldfarbenes Licht aus, das noch weniger real war als das der Kerzen und s eine Sinne noch mehr verwirrte, denn obwohl es nur wenige Meter entfernt da gestanden hatte und nun mit einem Schritt in den Kreis der sich Wiegenden hineintrat, konnte er das Gesicht unter dem glatten schwarzen Haar nicht erkennen. Aber er spürte den Blick ihrer Augen, der durchdringend auf ihm ruhte, und es war etwas darin, das ihn bis ins Mark erschütterte. Etwas, das heißer brannte als Zorn, das tiefer ging als Haß und das ihn am Grunde seiner Seele berührte und etwas in ihm zu Eis erstarren ließ. Ganz instinktiv spürte er, daß das Gesicht hinter diesem goldenen Schein unendlich schön sein mußte, aber daß ihn sein Anblick auch verbrennen würde, denn er war nicht für die Augen Sterblicher gedacht. Trotzdem hätte er sein Leben gegeben, nur einen einzigen Blick hinter diesen Vorhang aus leuchtendem Licht zu werfen.
Dann hörte er die Stimme. Sie war so überirdisch schön und irreal wie die Gestalt selbst, und wie schon zuvor bei ihrem Gesicht war etwas Substantielles von ihr nicht zu erkennen. Hätte er es gekonnt, wäre ihr Klang so tödlich gewesen wie der Anblick des Engelsgesichtes, und er hätte ebensoviel dafür gegeben, ihn ein einziges Mal wirklich zu hören. »Du hast und verraten «, sagte sie. » Du hast mich verraten, obwohl ich dir mein Vertrauen und meine Liebe geschenk t habe. Sieh, was du getan hast. «
Eine leuchtende Hand hob sich und deutete auf die Gestalt
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