Azrael
Gefühle in seinem Körper. Gewiss, im Lauf seiner langen Existenz hatte er Schmerzen empfunden, Hunger und Trauer, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sowie die Gelassenheit der Resignation, die der Erkenntnis entsprang, all dies würde zum Leben gehören – und in seinem Fall niemals enden –, doch dann hörte er, wie Sophie sich sagte: Irgendwo da draußen wartet sein Sternenengel, Soph. Du kriegst ihn nicht, ganz egal wie verdammt sexy er ist mit seinem langen schwarzen Haar und den Goldaugen und dieser Wahnsinnsstimme. Bei diesen in Gedanken gewisperten Worten hatte Azrael etwas völlig Neues verspürt. Ein Prickeln, vermischt mit wachsender Unruhe, die an ernsthafte Angst grenzte. Vorfreude. Glück. Hoffnung.
Sophie Bryce stand auf ihn. Bei dieser Erkenntnis hätte er fast gelacht. Eine moderne Phrase. Und eine Untertreibung, verglichen mit der enormen Bedeutung der Situation. Aber gefreut hatte es ihn. Und das wollte schon etwas heißen.
Nach dem Genuss von Sophies oberflächlichen Gedanken war er tiefer in ihr Gehirn eingedrungen und das beglückende Prickeln einer dunklen Verwirrung gewichen. Oben Licht und Wärme – darunter Schatten. Schwere Zeiten lagen hinter ihr. Kurz vor ihrem sechsten Geburtstag waren die Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dann mehrere Pflegefamilien, jede schlimmer als die vorherige …
Auf diesem Sternenengel schien ein Fluch zu liegen. Von Misshandlungen und Tod umgeben, hatte sie in ihrer Fantasie immer neue Irrgärten erschaffen, sich darin verloren, erlösendes Vergessen gesucht. In ihrer Vergangenheit gab es Regionen, die nicht einmal Azrael erreichte. Zumindest nicht auf einfachen Wegen. Er war der Todesengel, der älteste, mächtigste aller Vampire, und er hätte ihr die Erinnerungen entreißen können. Doch das hätte sie gespürt und jene Ereignisse noch einmal erlebt. Was sie vergessen wollte, wäre wieder hochgekommen. So etwas würde er einem normalen Menschen nicht antun und seinem Sternenengel schon gar nicht.
Deshalb hatte er sich beherrscht und sich aus ihrem Geist zurückgezogen. Sie sollte ihre Geheimnisse für sich behalten – vorerst. Und er hatte ohnehin genug herausgefunden. In ihrem jungen Leben hatte sie bitteres Leid ertragen, und sie fürchtete die Menschen, obwohl sie sich tough gab.
Wegen ihrer Schönheit hatte sie widerwärtige Attacken von Pflegevätern und Fremden erdulden müssen. Deshalb verzichtete sie meistens auf Dates. Körperlich war sie nicht »unschuldig«, aber in ihrer Seele.
Derzeit arbeitete sie als Reinigungskraft in einem Hotel, weil sie keine bessere Ausbildung genossen hatte. Aber eines Tages wollte sie eine Tanzschule gründen und Kinder unterrichten. Nur Kindern vertraute sie, voller Sehnsucht nach der Atmosphäre einer glücklichen Kindheit, die ihr selbst verwehrt worden war.
Zu schnell durfte er sich ihr nicht nähern. Sonst würde er alte Wunden aufreißen.
Wenn Michael erfuhr, dass sie Azraels Sternenengel war, würde er sich womöglich einmischen und sie informieren. Er hielt nichts von Lügen und Geheimnissen. Also würde er sofort versuchen, Sophie in den Erzengelkreis hineinzuziehen, und ihr erzählen, wer sie war. Und was Az war. Ein Vampir.
Das wollte Az nicht. Noch nicht. Zunächst würde er alles vermeiden, was sie in die Flucht schlagen könnte. Es war sehr aufschlussreich gewesen, Uriel und Gabriel zusammen mit ihren Partnerinnen zu beobachten. Ein Sternenengel musste seinen Erzengel bedingungslos lieben, ihm vertrauen, sich ihm ganz und gar hingeben. Dazu wäre Sophie nicht bereit, wenn sie zu sehr bedrängt wurde. Sie war etwas Besonderes. Deshalb musste er sie vorsichtig behandeln und ihr Zeit lassen.
Einfach würde es nicht sein, und er brauchte niemanden, der es ihm noch schwerer machte. Vorläufig würde er Mike nichts verraten. »Da gibt es nichts zu sagen«, log er schließlich.
Nur wenige Schritte entfernt stand Michael im Waschraum der Männertoilette und beobachtete ihn. Az drang ins Gehirn seines Bruders ein. Natürlich bemerkte Mike die Lüge, glaubte aber glücklicherweise, etwas anderes würde dahinterstecken. Er nahm an, Az wäre einfach nur neidisch, weil zwei Brüder ihr Glück schon gefunden hatten und er selbst nicht.
Gut, soll er das vermuten.
Nach einer kurzen Pause räusperte sich Michael und brach das Schweigen. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, wechselte er mit seinem üblichen Geschick das Thema.
»Dann tu’s.«
»Ich will McFarlan zu einem Fall in
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