Azrael
einer kurzen Pause begann Sophie wieder zu sprechen. »Dann kann ich’s dir ja sagen.«
»Was?«
Soph lächelte unsicher. Einerseits freute sie sich, andererseits flatterten ihre Nerven. Seit Wochen wollte sie ihrer Freundin die besondere Neuigkeit mitteilen. Aber Jules war in Schottland gewesen, nur selten erreichbar, hatte einen Erzengel kennengelernt und alles kompliziert, um es milde auszudrücken. Jetzt, kurz nach der Trauung, trug sie immer noch ihr Brautkleid, und der Zeitpunkt eignete sich vielleicht nicht für solche Infos. Bald würden ihre Flitterwochen anfangen. Und die zwanzig Minuten lange Begegnung mit dem Frontsänger von Valley of Shadow verwirrte Sophie immer noch.
Allein schon der Gedanke an den Mann erhitzte ihr Blut fast schmerzlich.
Aber das Thema der Übersiedlung erinnerte sie an ihr Geheimnis. Nun musste sie es endlich loswerden. Sie sah keinen Grund, noch länger in Pennsylvania zu bleiben, nicht zuletzt, weil Jules wegziehen würde. Und es gab auch keinen Grund, warum die Freundin sich nicht für sie freuen sollte. »Ich habe ein Stipendium in Berkeley bekommen.« Zum ersten Mal sprach sie es laut aus, als hätte sie gefürchtet, sich alles zu verderben, wenn sie ihr Glück in Worte fasste.
Im Lauf der Jahre hatte sie in zahlreichen Theaterstücken und Musicals mitgewirkt und damit das Einkommen aufgebessert, das ihr diverse Mindestlohn-Jobs einbrachten. Allzu gut wurden ihre Nebenrollen nicht bezahlt, erinnerten sie aber an die Begeisterung ihrer Mutter für Shakespeare und die Kunst im Allgemeinen.
Für Halloween-Abende trieb Sophie fast immer gleich drei Kostüme auf, um verschiedene Personen oder Monster darzustellen. In diesen Rollen ging sie völlig auf und floh für eine Weile aus ihrem tristen Alltag. Aber am liebsten tanzte sie. Seit ihrer Kindheit wollte sie Tänzerin werden. Manchmal hatte ihre Mutter in den Gängen des Supermarkts spontan mit ihr getanzt. Genevieve hatte ihrer Tochter die Liebe zur Musik vererbt. Von gewissen Songtexten waren beide mitgerissen und zum Tanzen inspiriert worden. Wenn Sophie tanzte, glaubte sie, eine Rolle zu spielen, ohne zu sprechen.
Nach dem Verlust der Eltern hatte ihr die Musik über Trauer, Angst und Einsamkeit hinweggeholfen. Tag und Nacht hatte sie im Waisenhaus Kopfhörer getragen. Und wenn sie allein gewesen war, hatte sie sich im Takt der Musik bewegt. Dafür besaß sie ein besonderes Talent. Das wussten nicht einmal ihre Freundinnen.
Wie so viele kleine Mädchen träumte sie davon, richtig tanzen zu lernen und eines Tages den Beruf einer Tänzerin zu ergreifen. In Sophies Fall ein unrealistischer Traum. Sie war ein Waisenkind. Für eine Ausbildung fehlte ihr das Geld und außerdem die Unterstützung stolzer, liebevoller Eltern.
Und so hatte sie ihren Traum auf die lange Bank geschoben. Aber vor einem Jahr hatte sie gemerkt, dass sie fünfundzwanzig war und nicht jünger wurde. Die meisten ihrer Freundinnen studierten. So wie Juliette. Für eine Tänzerin war Sophie schon ziemlich alt. Mit zwanzig mussten Tänzerinnen bereits Primaballerinen werden, und danach neigten sich die meisten Karrieren dem Ende zu.
Jetzt interessierte es Sophie nicht mehr, im Rampenlicht zu stehen. Sie liebte den Tanz immer noch. Doch mit den Jahren hatten sich ihre Prioritäten geändert. Nun wollte sie Kindern Tanzunterricht geben.
Und die Zeit lief ihr davon. Bei dieser Erkenntnis brachte sie den nötigen Mut für einen Versuch auf. Sie absolvierte die erforderlichen Examina und verschickte Bewerbungen. Berkeley war ein Treffer ins Schwarze. An dieser Universität hatte sie sich nur beworben, weil das Geld, das ihr die Eltern hinterlassen hatten, zumindest teilweise die Ausbildung an einem der weitbesten Colleges finanzieren sollte.
Niemals hatte sie erwartet, dass man sie annehmen und ihr sogar ein Stipendium bewilligen würde. In dieser Hinsicht hatte ihr der Status einer Vollwaise geholfen. Wenn sie es wünschte, konnte sie ihr Studium schon in diesem Herbst beginnen.
In San Francisco war das Leben furchtbar teuer. Aber mit der kleinen, von den Eltern geerbten Summe konnte sie am Anfang wenigstens die Mietkosten bestreiten. An das Konto war sie erst mit einundzwanzig herangekommen. Sie hatte das Geld noch nicht angerührt, denn sie wollte die Hinterlassenschaft ihrer Eltern nicht für irgendwelche vergänglichen Dinge vergeuden. Und vergänglich war ihr bisher fast alles erschienen.
Aber nun würde sie ihr Erbe für eine solide berufliche
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