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Berghoff. Jon ist das Stereotyp eines Introvertierten, bis hin zu seiner körperlichen Erscheinung: schlank, drahtiger Körper, Brille, schmale Nase, hervorstehende Wangenknochen, nachdenklicher Gesichtsausdruck. Er redet nicht viel, aber was er sagt, ist sorgfältig überlegt, besonders wenn er in einer Gruppe ist: »Wenn ich in einem Raum mit zehn Leuten die Wahl zwischen Reden und Schweigen habe«, sagt er, »schweige ich. Wenn Menschen in einer Gruppensituation fragen: ›Warum sagst du nichts?‹, bin ich derjenige, der gemeint ist.«
Aber Jon ist ein hervorragender Geschäftsmann und das seit seiner Jugend. Schon im Sommer 1999, in seinem vorletzten Jahr an der Highschool, stieg er in den Direktvertrieb von Cutco-Küchenprodukten ein. Seine Aufgabe bestand darin, bei den Kunden zu Hause vorstellig zu werden und ihnen Messer zu verkaufen. Dieser Umstand stellte größtmögliche Nähe zwischen ihnen her, denn der Verkauf fand nicht in einem Hotelraum oder in einem Verkaufsbüro statt, sondern in der Küche der potenziellen Kunden, wo er ihnen ein Produkt verkaufte, das sie täglich benutzen würden, um Essen auf den Tisch zu bringen.
Innerhalb der ersten acht Wochen verkaufte Jon Messer im Wert von 50 000 Dollar. Im selben Jahr wurde er Topvertreter der Firma unter 40 000 Neuanfängern. Im Jahr 2000 – in seinem letzten Schuljahr an der Highschool – zog Jon Aufträge im Wert von über 135 000 Dollar an Land und brach über 25 landesweite und regionale Verkaufsrekorde. In der Highschool war er nach wie vor ein im Umgang mit anderen linkischer Schüler, der sich mittags in die Bibliothek verkroch. Aber 2002 hatte er bereits neunzig neue Vertreter rekrutiert, angestellt und geschult und die Bezirksverkäufe um 500 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesteigert. Inzwischen hat Jon eine eigene Coaching- und Verkaufstraining-Firma namens »Global Empowerment Coaching« ins Leben gerufen und vor über 30 000 Verkäufern und Managern Hunderte von Vorträgen, Trainingsseminaren und private Konsultationen gehalten.
Was ist das Geheimnis seines Erfolgs? Einen wichtigen Hinweis liefert ein Experiment, das die Persönlichkeitspsychologin Avril Thorne, mittlerweile Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz durchführte. 14 Sie ließ 52 junge Frauen – 26 introvertierte und 26 extravertierte – mit zwei unterschiedlichen Gesprächspartnerinnen sprechen. Jede Versuchsperson führte ein zehnminütiges Gespräch mit einer Partnerin ihres eigenen Typs und ein zweites Gespräch gleicher Länge mit einer Partnerin des gegenteiligen Typs. Thornes Team nahm die Gespräche auf und bat die Teilnehmerinnen, sich das Band noch einmal anzuhören.
Dieses Vorgehen förderte einige Überraschungen zutage. Die Introvertierten und die Extravertierten beteiligten sich etwa gleich stark am Gespräch, was die Vorstellung Lügen strafte, dass Introvertierte stets weniger reden. Aber die introvertierten Paare konzentrierten sich eher auf ein oder zwei ernsthafte Gesprächsthemen, während die extravertierten Paare oberflächlichere und breiter gestreute Themen wählten. Die Introvertierten sprachen oft über Probleme oder Konflikte in ihrem Leben: Schule, Arbeit, Freundschaft und Ähnliches. Vielleicht aufgrund dieser Vorliebe für »Problemgespräche« übernahmen sie auch oft gegenseitig die Ratgeberrolle füreinander und berieten sich bei ihren Konflikten. Die Extravertierten hingegen gaben eher oberflächliche Informationen über sich preis, die eine Gemeinsamkeit mit der anderen Person herstellen sollten: Sie haben einen neuen Hund? Das ist toll. Ein Freund von mir hat ein erstaunliches Aquarium mit Salzwasserfischen!
Aber der interessanteste Teil an Thornes Experiment war, wie sehr sich die beiden unterschiedlichen Typen gegenseitig schätzten. Introvertierte, die mit Extravertierten sprachen, wählten fröhlichere Themen, gaben an, dass sie das Gespräch lockerer führten, und beschrieben das Gespräch mit Extravertierten als »frische Brise«. Die Extravertierten hingegen hatten den Eindruck, dass sie sich bei introvertierten Partnern besser entspannen konnten und freier waren, ihnen ihre Probleme anzuvertrauen. Sie verspürten nicht den Druck, falsche Souveränität zu heucheln.
Das sind wertvolle Informationen für das Miteinander. Auch wenn Introvertierte und Extravertierte sich manchmal voneinander abgestoßen fühlen, zeigt Thornes Untersuchung doch, wie viel jeder dem anderen
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