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bedrückt, weil ihre Freundinnen an zwei unterschiedlichen Tischen in der Schulcafeteria saßen. An einem Tisch saßen ihre stilleren Freundinnen, am anderen die Extravertierten in der Klasse. Isabels Schilderung zufolge war die zweite Gruppe laut: »Alle schwatzten ununterbrochen und saßen sich gegenseitig auf dem Schoß. Schrecklich.«
Isabel war traurig darüber, dass ihre beste Freundin Amanda lieber am »verrückten Tisch« saß, obwohl sie auch mit den Mädchen an »dem entspannteren und ruhigeren Tisch« befreundet war. Isabel fühlte sich hin- und hergerissen. Wo sollte sie sich hinsetzen?
Als Erstes dachte Joyce, dass der »verrückte Tisch« lustiger klang. Dann fragte sie Isabel, was ihr lieber wäre. Isabel dachte kurz nach und antwortete: »Vielleicht setze ich mich ab und zu mal zu Amanda, aber eigentlich finde ich es gut, stiller zu sein und mich beim Mittagessen zu erholen.«
Wozu denn das?, dachte Joyce. Doch dann fing sie sich noch gerade rechtzeitig, bevor sie den Gedanken laut aussprach. »Das klingt vernünftig«, bestätigte sie Isabel. »Amanda mag dich trotzdem. Sie sitzt einfach nur gern am anderen Tisch. Aber das heißt nicht, dass sie dich nicht mag. Gönn dir einfach die Ruhe, die du brauchst.«
Seit sie die Introversion besser versteht, hat Joyce die Art ihrer Erziehung verändert, und sie wundert sich, dass sie so lange dazu gebraucht hat. »Wenn ich sehe, was für ein wunderbares Mädchen Isabel ist, weiß ich es sehr zu schätzen, selbst wenn es in der Welt vielleicht heißt, es wäre besser, am anderen Tisch zu sitzen. Wenn ich diesen Tisch durch ihre Augen betrachte, hilft es mir, darüber nachzudenken, wie ich möglicherweise von anderen wahrgenommen werde und dass ich mir meinen extravertierten ›Normalzustand‹ bewusst machen und ihn kontrollieren muss, damit mir nicht die Gesellschaft von Menschen wie meiner süßen Tochter entgeht.«
Joyce schätzt inzwischen auch Isabels Sensibilität. »Isabel ist eine alte Seele«, sagt sie. »Man vergisst, dass sie noch ein Kind ist. Wenn ich mit ihr rede, bin ich nicht in der Versuchung, den Tonfall anzuschlagen, den Erwachsene für Kinder reservieren, und ich passe auch meine Wortwahl nicht an. Ich rede mit ihr so, wie ich mit jedem Erwachsenen reden würde. Sie ist sehr sensibel, sehr fürsorglich. Sie macht sich um das Wohlergehen anderer Menschen Sorgen. Sie fühlt sich schnell überfordert, aber das ist nur die Kehrseite, und ich liebe das an meiner Tochter.«
Joyce ist so fürsorglich, wie eine Mutter es nur sein kann, aber wegen ihrer unterschiedlichen Veranlagung musste sie bei der Erziehung ihrer Tochter sehr viel dazulernen. Hätte sie ihre Eltern-Kind-Passung als natürlicher empfunden, wenn sie selber introvertiert gewesen wäre? Nicht unbedingt. Introvertierte Eltern sind zuweilen mit eigenen Herausforderungen konfrontiert. Manchmal können sich ihnen schmerzliche Kindheitserinnerungen in den Weg stellen.
Emily Miller, eine klinische Sozialarbeiterin in Ann Arbor, Michigan, berichtete mir von Ava, einem kleinen Mädchen, das sie in Behandlung hatte und dessen Schüchternheit so extrem war, dass sie keine Freundinnen fand und sich im Unterricht nicht konzentrieren konnte. Als Ava irgendwann mit einigen anderen Kindern vor der Klasse singen sollte, fing sie an zu schluchzen, woraufhin ihre Mutter Sarah beschloss, bei Miller Hilfe zu suchen. Miller bat Sarah, eine erfolgreiche Unternehmensjournalistin, an Avas Behandlung teilzunehmen. Daraufhin brach Sarah in Tränen aus. Auch sie war ein schüchternes Kind gewesen und fühlte sich schuldig, dass sie ihre furchtbare Last an Ava weitergegeben hatte.
»Ich kann es inzwischen besser verbergen, aber ich bin immer noch wie meine Tochter«, erklärte sie. »Ich kann auf jeden zugehen, aber nur mit dem Notizbuch der Journalistin in der Hand.«
Sarahs Reaktion ist nicht ungewöhnlich für den pseudoextravertierten Elternteil eines schüchternen Kindes, sagt Miller. Sarah durchlebt nicht nur ihre eigene Kindheit noch einmal, sie projiziert auf Ava auch die schlimmste Version ihrer eigenen Erinnerungen. Aber Sarah muss begreifen, dass sie und Ava nicht dieselbe Person sind, auch wenn sie von ihrer Anlage her tatsächlich Ähnlichkeiten zu haben scheinen. Schließlich ist Ava genetisch ebenso durch ihren Vater beeinflusst wie auch durch eine ganze Reihe von Umweltfaktoren, und deshalb äußert sich ihre Problematik notgedrungen auch anders. Sarahs eigenes Unglück muss nicht
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