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ihrer Schüler zu legen. In einer staatlichen Schule in der Innenstadt von Atlanta, die ich besuchte, machte mich eine Lehrerin der dritten Klasse auf einen stillen Schüler aufmerksam, der es vorzog, »sein eigenes Ding zu machen«. »Aber wir haben ihm eines Morgens die Verantwortung für die Sicherheitspatrouille übertragen, sodass auch er die Chance bekam, eine Führungsrolle zu übernehmen«, versicherte sie mir.
Diese Lehrerin war freundlich und meinte es gut, doch ich frage mich, ob Schülern wie dem jungen Sicherheitsbeauftragten nicht besser damit gedient wäre, wenn wir anerkennen würden, dass nicht jeder das Bestreben hat, eine Führungsrolle im konventionellen Sinne des Wortes zu übernehmen. Manche Menschen haben den Wunsch, sich harmonisch in eine Gruppe einzufügen, und andere wollen lieber unabhängig bleiben. Oft gehören gerade die hochkreativen Menschen zur letzten Kategorie. Wie Janet Farrall und Leonie Kronborg in Leadership Development for the Gifted and Talented schreiben:
Während Extravertierte oft eine soziale Führungsrolle erreichen, erlangen Introvertierte eher eine Führungsrolle auf theoretischem und ästhetischem Gebiet. Herausragende introvertierte Führungspersönlichkeiten wie Charles Darwin, Marie Curie, Patrick White und Arthur Boyd, die entweder neue Felder des Denkens eröffneten oder bestehendes Wissen neu ordneten, haben lange Phasen ihres Lebens in der Einsamkeit verbracht. Offenbar gibt es Führungsrollen nicht nur in sozialen Situationen, sondern auch auf einsameren Gebieten, wie der Entwicklung neuer Techniken in der Kunst, dem Schaffen neuer Philosophien, dem Verfassen tiefschürfender Bücher und der Arbeit an wissenschaftlichen Durchbrüchen.« 12
Das neue Gruppendenken entwickelte sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, den man präzise benennen könnte. Kooperatives Lernen und Teamarbeit in Firmen und Großraumbüros entstanden zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Gründen. Aber ein Hauptfaktor, der für die Bündelung dieser Trends sorgte, war das Aufkommen des Internets, das der Idee der Zusammenarbeit Nachdruck verlieh. Im Internet kamen durch gemeinsame Intelligenz erstaunliche Schöpfungen zustande: die Open-Source-Software Linux; die Online-Enzyklopädie Wikipedia oder die politische Graswurzel-Bewegung Avaaz. org.
Diese kollektiven Schöpfungen, die die Summe ihrer Teile um ein Vielfaches überstiegen, waren so ehrfurchtgebietend, dass wir anfingen, den Bienenstockgeist – die Weisheit der vielen und das Wunder des Engagements der vielen – zu verehren. Zusammenarbeit wurde bald zur heiligen Kuh, zum Schlüsselmultiplikator für Erfolg. Wir lernten, Transparenz wertzuschätzen und Wände niederzureißen – nicht nur online, sondern auch persönlich . Wenn Menschen deshalb über Aspekte des neuen Gruppendenkens sprechen, wie etwa Großraumbüros, berufen sie sich meistens auf das Internet. »Eine Bürowand ist exakt das, wonach sie klingt – eine Barriere«, sagte mir ein Managementberater. »Je neuartiger Ihre Denkmethoden, desto weniger können Sie Barrieren gebrauchen. Die Firmen, die Großraumbüros benutzen, sind neue Firmen, so wie das Internet, das noch im Jugendstadium ist.«
Die Rolle des Internets bei der Förderung persönlicher Zusammenarbeit ist jedoch paradox, denn das Netz war anfänglich ein Medium, das es Gruppen von oft introvertierten Individualisten – Menschen wie den einsamen Denkern, die Farrall und Kronborg beschreiben – ermöglichte, sich zusammenzufinden, um die übliche Weise, Probleme zu lösen, zu unterlaufen und zu überwinden. Eine signifikante Mehrheit der ersten Computerenthusiasten waren Introvertierte, wie eine Untersuchung von 1229 Computerspezialisten, die zwischen 1982 und 1984 in Amerika, England und Australien arbeiteten, belegt. 13 »Es ist eine Binsenweisheit in Technologiekreisen, dass Open-Source-Software Introvertierte anzieht«, schrieb mir Dave W. Smith, Berater und Software-Entwickler in Silicon Valley, und er meint damit das Verfahren, Software zu produzieren, indem man den Quellcode veröffentlicht und allen erlaubt, ihn zu kopieren, weiterzuentwickeln und zu verteilen.
Die ersten Schöpfer von Open-Source-Software haben keinen Büroraum miteinander geteilt – oft lebten sie nicht einmal im selben Land. Ihre Zusammenarbeit fand weitestgehend per Computer statt. Das ist kein unbedeutendes Detail. Hätte man die Leute, die Linux erfunden haben, ein Jahr lang in einen riesigen
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