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weil es sehr spezielle Eigenschaften aufwies, die den meisten modernen Schulen und Arbeitsplätzen fehlen. Es bot Kontakt, aber er war so unverbindlich, dass ich von unerwünschten Ablenkungen verschont blieb und so mein Schreiben »gezielt üben« konnte. Ich konnte hin-und herschalten zwischen einer Beobachterrolle und Kontakt, so wie es mir gerade passte. Ich konnte auch meine Umgebung frei bestimmen. Jeden Tag wählte ich den Platz aus, an dem ich sitzen wollte – in der Mitte des Raums oder am Rande –, je nachdem, ob ich gesehen werden und sehen wollte. Und ich hatte die Möglichkeit, jederzeit zu gehen, wenn ich das, was ich am Tag geschrieben hatte, ungestört überarbeiten wollte. Gewöhnlich war mir schon nach wenigen Stunden danach zumute – nicht erst nach acht, zehn oder 14 Stunden, die viele Menschen im Büro verbringen.
Die Lösung, die ich vorschlage, lautet, unsere persönliche Kommunikation radikal zu verfeinern. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, in denen es Menschen freisteht, sich in einer wechselnden Auswahl von Interaktionen zu bewegen und sich in ihren persönlichen Arbeitsbereich zurückzuziehen, wenn sie sich konzentrieren oder einfach allein sein wollen. Wir müssen Kindern in der Schule die Zeit und den Raum geben, die sie brauchen, um gezielt für sich allein Fertigkeiten zu üben, bis ihr Talent zur Fachkompetenz heranreift. Wir müssen auch erkennen, dass viele Menschen – besonders Introvertierte wie Steve Wozniak – zusätzliche Ruhe und Privatsphäre brauchen, um Spitzenleistungen zu vollbringen.
Einige Firmen beginnen, den Wert der Stille und der Alleinarbeit zu verstehen, und schaffen »flexible« Arbeitsräume, die eine Mischung aus privaten Arbeitsbereichen, ruhigen Zonen, lockeren Treffpunkten, Cafés, Leseräumen, Computerzentren und sogar »Straßen« bieten, auf denen Menschen sich locker miteinander unterhalten können, ohne den Arbeitsfluss anderer zu stören. Bei Microsoft bekommen die meisten Angestellten beispielsweise ein privates Büro, aber es hat Schiebetüren, mobile Wände und andere Eigenschaften, die den dort Arbeitenden erlauben zu entscheiden, wann sie zusammenarbeiten wollen und wann sie Zeit für sich zum Nachdenken brauchen. Von solchen unterschiedlichen Arbeitsräumen profitieren sowohl Introvertierte als auch Extravertierte, sagte mir der Systemdesignforscher Matthew Davis, denn sie bieten mehr Rückzugsmöglichkeiten als traditionelle Großraumbüros.
Ich vermute, dass auch Wozniak diese Entwicklungen gutheißen würde. Bevor er den Apple-PC entwickelte, konstruierte er Rechenmaschinen für Hewlett Packard – eine Aufgabe, die er teilweise auch deswegen liebte, weil HP es den Mitarbeitern leicht machte, sich mit anderen zu unterhalten. Jeden Tag um zehn Uhr morgens und zwei Uhr mittags ließ das Management Donuts und Kaffee hereinrollen, und die Leute setzten sich zu einem lockeren Gedankenaustausch zusammen. Das Besondere an diesen Begegnungen war, dass sie in einer informellen und entspannten Atmosphäre stattfanden. In iWoz schreibt Wozniak, dass es bei HP nur um Leistung ging; es war nicht von Belang, wie jemand aussah, es gab keinen Bonus für Kontaktfreudigkeit, und niemand schubste ihn von seiner geliebten Konstruktionstätigkeit ins Management. Das ist es, was Zusammenarbeit für Wozniak bedeutete: die Möglichkeit, ein Donut und ein paar Ideen mit seinen zurückhaltenden, nicht urteilenden, lässig angezogenen Kollegen zu teilen – denen es völlig egal war, wenn er in seiner Wabe verschwand, um seine Arbeit zu erledigen.
TEIL II
Unsere Biologie, unser Selbst
KAPITEL 4
Ist Temperament Schicksal?
Anlage, Sozialisation und die Orchideenhypothese
Manche Menschen sind sich aller Dinge sicherer als ich mir einer einzigen Sache.
Robert Rubin, In an Uncertain World
Es ist zwei Uhr nachts, ich kann nicht schlafen und möchte sterben. Normalerweise gehöre ich nicht zu den Selbstmordkandidaten, aber dies hier ist die Nacht vor einem großen Vortrag, und mein Kopf schwirrt vor entsetzlichen Was-wenn-Sätzen. Was, wenn ich einen trockenen Mund bekomme? Was, wenn ich die Zuhörer langweile? Was, wenn ich mich auf dem Podium übergebe?
Mein Freund (und jetziger Ehemann) Ken merkt, wie ich mich hin- und herwälze. Meine Qualen bestürzen ihn. Als UN-Blauhelmsoldat geriet er einmal in Somalia in einen Hinterhalt. Ich glaube nicht, dass er damals so viel Angst hatte wie ich jetzt.
»Versuch, an etwas Schönes zu denken«, sagt er
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