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und streicht mir über die Stirn.
Ich starre an die Decke, während mir die Tränen kommen. Etwas Schönes? Was könnte an einer Welt der Mikrofone und Rednerpulte schön sein?
»In China gibt es eine Milliarde Menschen, die dein Vortrag nicht einen Deut interessiert«, legt er mitfühlend nach.
Das hilft – für ungefähr fünf Sekunden. Ich drehe mich um und schaue auf den Wecker. Endlich ist es halb sieben. Der schlimmste Teil – die Nacht davor – ist zumindest vorbei. Morgen um diese Zeit bin ich frei. Aber erst muss ich noch den heutigen Tag überstehen. Ich ziehe mich grimmig an und schnappe mir meinen Mantel. Ken überreicht mir eine Trinkflasche, gefüllt mit Irish Cream von Bailey’s. Ich mache mir nicht viel aus Alkohol, aber Bailey’s mag ich, weil er wie ein Schokoladen-Milchshake schmeckt. »Trink das 15 Minuten vorher«, rät er mir und gibt mir zum Abschied einen Kuss.
Ich nehme den Fahrstuhl nach unten und setze mich in das Auto, das draußen schon wartet, um mich zu meinem Ziel zu chauffieren, einem großen Firmensitz in einer Vorstadtgegend von New Jersey. Während der Fahrt habe ich reichlich Zeit, mich zu fragen, wie ich mich in eine solche Lage bringen konnte. Ich habe vor Kurzem meine Arbeit als Anwältin an der Wall Street aufgegeben, um eine eigene Beratungsfirma zu gründen. Bisher hatte ich nur mit Einzelklienten oder Kleingruppen zu tun, was ich angenehm fand. Aber als mich ein Bekannter, Leiter der Rechtsabteilung in einem großen Medienunternehmen, gebeten hat, ein Seminar für sein ganzes Führungsteam zu halten, habe ich – sogar enthusiastisch! – zugestimmt, aus Gründen, die ich jetzt nicht mehr nachvollziehen kann. Ich bete um eine Katastrophe – vielleicht eine Überschwemmung oder ein kleines Erdbeben –, irgendetwas, damit ich das Seminar nicht halten muss. Dann bekomme ich Schuldgefühle, dass ich die ganze Stadt in mein Drama hineinziehen will.
Schließlich hält das Auto vor dem Bürohaus des Kunden, und ich steige aus und versuche, den Pepp und die Selbstsicherheit einer erfolgreichen Unternehmensberaterin zu versprühen. Der für die Organisation des Seminars Verantwortliche eskortiert mich zum Vortragsraum. Ich frage nach der Toilette und nehme in der Abgeschiedenheit der Kabine einen Schluck aus der Flasche. Ein paar Minuten lang stehe ich da und warte darauf, dass der Alkohol seine Wirkung entfaltet. Doch ich habe immer noch eine Heidenangst. Vielleicht sollte ich noch einen Schluck nehmen. Besser nicht, es ist erst neun Uhr morgens – was, wenn ich nach Alkohol rieche? Ich ziehe meinen Lippenstift nach und gehe in den Vortragsraum, wo ich meine Unterlagen auf dem Pult ordne, während sich der Raum mit wichtig aussehenden Geschäftsleuten füllt. Mach, was du willst, aber übergib dich nicht , sage ich zu mir selbst.
Einige der Führungskräfte schauen zu mir hin, aber die meisten starren gebannt auf ihre Blackberrys. Ganz eindeutig hole ich sie von einer dringenden Arbeit weg. Wie soll ich ihre Aufmerksamkeit lange genug fesseln, damit sie aufhören, wichtige Mitteilungen auf ihre winzigen Handytastaturen zu hämmern? Ich gelobe, gleich hier und jetzt, dass ich nie wieder einen Vortrag halten werde.
Das war vor zehn Jahren. Seither habe ich viele Vorträge gehalten. Ich habe meine Angst nicht komplett überwunden, aber mit den Jahren habe ich Strategien entdeckt, die allen Introvertierten in ähnlichen Situationen helfen können (mehr darüber in Kapitel 5).
Im Übrigen habe ich Ihnen die Geschichte meiner panischen Angst deswegen erzählt, weil sie den Kern einiger meiner dringendsten Fragen zum Thema Introversion berührt. Irgendwo tief im Innern scheint meine Angst vor Vorträgen mit anderen Aspekten meiner Persönlichkeit verknüpft zu sein, die ich schätze, besonders meiner Vorliebe für alles Sanfte und Intellektuelle. Diese Konstellation von Wesenszügen scheint mir nicht unüblich zu sein. Aber sind sie wirklich miteinander verknüpft, und wenn ja, wie? Sind sie das Resultat meiner »Sozialisation« – der Art, wie ich aufgezogen wurde? Meine Eltern sind beide leise, nachdenkliche Menschen, und wie ich spricht auch meine Mutter nicht gern vor mehreren Menschen. Oder sind sie meine »Anlage« – etwas tief in meiner Erbsubstanz Liegendes?
Ich habe über diese Fragen nachgedacht, seit ich erwachsen bin. Glücklicherweise haben sich auch Forscher in Harvard darüber Gedanken gemacht. Die Wissenschaftler dort untersuchten die
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