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und vergleicht Tom mit T. S. Eliot und dem Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead, »hat Tom ein Leben des Geistes gewählt.«
Im Gegensatz dazu ist Ralph entspannt und selbstsicher. Er behandelt den Interviewer aus Kagans Team wie einen Gleichaltrigen, nicht wie eine 25 Jahre ältere Autorität. Obwohl Ralph sehr intelligent ist, hat er in Englisch und den Naturwissenschaften schlecht abgeschnitten, weil er nicht aufgepasst hat. Aber Ralph lässt sich von nichts übermäßig beeindrucken. Er gibt seine Schwächen fröhlich zu.
Psychologen diskutieren oft den Unterschied zwischen »Temperament« und »Persönlichkeit«. Temperament meint angeborene, biologisch begründete Verhaltensweisen und emotionale Muster, die sich schon im Säuglingsalter und der frühen Kindheit beobachten lassen. Die Persönlichkeit ist ein komplexes Gebilde, das sich erst herausbildet, nachdem der gesellschaftliche Einfluss und persönliche Erfahrungen hinzugekommen sind. Man könnte sagen, das Temperament ist das Fundament und die Persönlichkeit das darauf gebaute Haus. Kagans Arbeit half, bestimmte Temperamente im Säuglingsalter mit der Persönlichkeit des Erwachsenen – wie im Beispiel von Tom und Ralph – zu verknüpfen.
Aber Kagan ging noch einen Schritt weiter. Wie konnte er wissen, dass die Säuglinge, die heftig strampelten, sich in vorsichtige, nachdenkliche Teenager verwandeln würden wie Tom oder dass die stillen Babys lockere, durch schulische Erfahrungen nicht zu erschütternde Elfjährige wie Ralph werden würden? Die Antwort liegt in ihrer Physiologie.
Kagan und sein Team beobachteten nicht nur das Verhalten der Säuglinge in ungewohnten Situationen, sondern maßen auch ihren Puls und Blutdruck, die Fingertemperatur und weitere für das Nervensystem ausschlaggebende Indikatoren. Kagan entschied sich für diese Parameter, weil man davon ausgeht, dass sie vom Mandelkern, einem kleinen, aber entscheidenden Organ im Gehirn, gesteuert werden. Der Mandelkern sitzt tief im limbischen System, einem alten Netzwerk im Gehirn, das sich selbst bei primitiven Säugetieren, wie Mäusen und Ratten, finden lässt. Dieses Netzwerk – manchmal auch »emotionales Gehirn« genannt – steckt hinter vielen unserer Grundinstinkte, die wir mit den Tieren teilen, wie dem Appetit, dem Sexualtrieb und der Angst.
Der Mandelkern dient als emotionale Schalttafel des Gehirns. Er empfängt Informationen von den Sinnesorganen und signalisiert dem übrigen Gehirn und dem Nervensystem, wie sie zu reagieren haben. Eine seiner Funktionen ist, ungewohnte, unerwartete oder bedrohliche Veränderungen in der Umgebung aufzuspüren – von einer durch die Luft fliegenden Frisbee-Scheibe bis hin zu einer zischenden Schlange – und dann Alarmsignale durch den Körper zu schicken, die eine Kampf- oder Fluchtreaktion auslösen. Wenn es danach aussieht, dass die Frisbee-Scheibe direkt auf unser Gesicht zufliegt, gibt uns der Mandelkern den Befehl, uns zu ducken. Wenn die Klapperschlange zubeißen will, sorgt der Mandelkern dafür, dass wir flüchten.
Kagan stellte die Hypothese auf, dass Säuglinge mit einem besonders erregbaren Mandelkern beim Anblick unbekannter Gegenstände schreien und zucken – und dass diese Säuglinge sich zu Kindern entwickeln würden, die bei der Begegnung mit Fremden zu Vorsicht neigen. Und genau das traf ein. Die vier Monate alten Babys, die wie wild mit den Armen wedelten, taten es nicht, weil sie angehende Extravertierte waren, sondern weil ihr kleiner Körper heftig auf neue Anblicke, Geräusche und Gerüche reagierte – sie waren »hoch reaktiv«. Die ruhigen Kinder blieben nicht stumm, weil es sich um zukünftige Introvertierte handelte – ganz im Gegenteil –, sondern weil ihr Nervensystem von Neuem unberührt blieb.
Je stärker der Mandelkern eines Kindes reagiert, desto weiter sind seine Augen aufgerissen, desto höher ist der Puls, desto verkrampfter sind die Stimmbänder, desto mehr Cortisol (ein Stresshormon) ist im Speichel nachweisbar – und desto schlechter wird es ihm gehen, wenn es etwas Neuem begegnet, das Reize auslöst. Wenn sie groß werden, sind hoch reaktive Kinder fortwährend mit Unbekanntem in vielen verschiedenen Zusammenhängen konfrontiert, vom ersten Besuch in einem Vergnügungspark bis hin zur Begegnung mit anderen Kindern beim ersten Tag im Kindergarten. Wir neigen dazu, das Temperament eines Kindes danach zu beurteilen, wie es auf unbekannte Menschen reagiert: Wie
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